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Wenn Kinder schwere Straftaten begehen: Experten-Interview

Wildblumen

Prof. Dr. med. habil. Frank Häßler

3. April 2023

Der Mord von zwei 12- und 13-jährigen Mädchen an einer Klassenkameradin im nordrhein-westfälischen Freudenberg hat viele Menschen erschüttert und Fragen nach den Ursachen und Folgen einer solchen Tat aufgeworfen. Wir haben darüber mit Prof. Dr. Frank Häßler gesprochen. Er ist ambulant tätiger Kinder- und Jugendpsychiater im MVZ der GGP Gruppe in Rostock und verfasst forensische Gutachten für Gerichtsprozesse. Gemeinsam mit Martina Dudeck und Norbert Nedopil hat er das „Praxishandbuch Forensische Psychiatrie: Grundlagen, Begutachtung, Interventionen im Erwachsenen-, Jugendlichen- und Kindesalter“ herausgegeben. Prof. Häßler ist Vorsitzender des Aufsichtsrats der Stiftung „Achtung!Kinderseele“.

Stiftung "Achtung!Kinderseele": 2021 wurden 7.477 Kinder und Jugendliche unter 14 verdächtigt, Gewalttaten wie schwere Körperverletzung, sexuellen Missbrauch, Totschlag und Mord begangen zu haben. Das sind über 20 Fälle pro Tag. Muss sich die Gesellschaft hier nicht ein großes Versagen vorwerfen?

Prof. Dr. Frank Häßler: Aggressiv auffälliges von der sozialen Norm abweichendes Verhalten im Kindes- und Jugendalter hat es schon immer gegeben. Kinder prügeln sich auf dem Schulhof, werfen Scheiben ein, lügen, begehen kleine Diebstähle – das ist zunächst einmal oft ein entwicklungstypisches Verhalten und gesellschaftlich gesehen kein großes Dilemma. Dennoch gibt es Kinder mit Bindungsstörungen, hirnorganischen Veränderungen, Mobbing- und Gewalterfahrungen, psychisch kranken oder auch delinquenten Elternteilen und frühen emotionalen Auffälligkeiten wie Mangel an Empathie, mangelndem Schuldgefühl und geringer Emotionalität, die unserer besonderen Aufmerksamkeit schon früh diagnostisch und therapeutisch bedürfen.


In jungen Familien mit Eltern, die schon selbst durch psychosoziale Risiken aufgefallen sind, könnte man Risiken, die zu einer Störung des Sozialverhaltens des Kindes führen können, mithilfe einer engmaschigen Betreuung durch eine Art „Familienhebamme“ in den ersten Lebensjahren minimieren. Das passiert in der Realität aber nicht. Auch so etwas wie Ethik- oder Moralunterricht an der Schule fehlt. Und die regelhafte Installation von Antimobbingprogrammen an den Schulen lässt zu wünschen übrig. Die Gesellschaft könnte im Zusammenwirken aller Verantwortlichen mehr dafür tun, dass Kinder und Jugendliche altersadäquat die Notwendigkeit von Regeln einsehen und sie auch befolgen.


Gleichzeitig muss man sagen: Impulsive Überreaktionen aus dem Nichts heraus sind in der Kindheit und Pubertät häufiger als bei Erwachsenen, lassen sich kaum vorhersagen und somit auch kaum verhindern, wobei sie nicht selten katastrophale Folgen haben. Ich erinnere mich an einen Fall, in dem ein zuvor psychisch und schulisch unauffälliger 14-Jähriger seine Mutter und seine Schwester nach dem Streit um eine Rolle Toilettenpapier und eine schlechte Zensur in Deutsch aus Ärger und Frust erschossen hat.


Erste Daten aus den Kriminalstatistiken der Bundesländer zeigen, dass in einigen Bundesländern die Zahl tatverdächtiger Kinder und Jugendlicher 2022 gegenüber 2021 stark gestiegen ist. Gibt es dafür eine Erklärung?

Wie genau die Corona-Pandemie sich in diesem Bereich ausgewirkt hat, ist schwer zu sagen, aber dass es Kinder und Jugendliche gibt, deren Aggressionspotential durch fehlende soziale Kontakte, wenig Freiräume, keinen Sport und die Reduktion auf die eigene Familie gestiegen ist, liegt auf der Hand. Was meiner Beobachtung nach überbewertet wird, ist der Einfluss der Medien, insbesondere die Triggerfunktion von Ego-Shootern und ähnlichen Spielen. Die allermeisten männlichen Jugendlichen spielen solche Spiele, bei den allerwenigsten führt dies zu Gewalttaten. Das Risiko der Nachahmung wächst aber bei psychisch instabilen vorbelasteten Kindern und Jugendlichen.


Wie wird in der stationären und ambulanten Kinder- und Jugendpsychiatrie mit sehr jungen Gewalttäter:innen umgegangen und welche Prognose haben sie? Finden die meisten in ein normales Leben zurück?

Wir behandeln adoleszente Gewalttäter:innen multiprofessionell und mehrdimensional und mit viel Empathie und Verständnis. Oberstes Ziel – und Gebot – ist die Ergründung der Ursachengefüge, die Behandlung relevanter Auffälligkeiten und Störungen und eine entsprechende (Re)Sozialisierung. Für eine gelungene Resozialisierung ist es wichtig, die ganze Familie zu stärken, nicht nur die Kinder. Im Ergebnis ist die Rückfallquote bei schweren Straftaten gering, sie liegt zwischen 10 und 20 Prozent. Bei minder schweren Straftaten wie Diebstählen, Schwarzfahren und Zündeln ist sie deutlich höher, bis zu 50 Prozent. Die enorme Abgebrühtheit, die nach allen vorliegenden Informationen die Täterinnen von Freudenberg gezeigt haben, ist sehr selten – und lässt mich vermuten, dass die Täterinnen schon zuvor psychosozial bzw. durch Empathiearmut aufgefallen sein müssen.


Kommt es vor, dass strafunmündige Kinder, die sehr schwere Gewalttaten begehen, nach ein bis zwei Jahren wieder anonym in eine Regelschule gehen? Und wenn ja, wer übernimmt dafür die Verantwortung?

In so schweren Fällen wie bei den Täterinnen von Freudenberg wird das sicher nicht passieren bzw. auch nicht möglich sein.


Welche Aspekte des Umgangs mit strafunmündigen Gewalttäter:innen sind Ihrer Erfahrung nach besonders entscheidend, damit die Rehabilitation gelingen kann?

Vollkommen verfehlt ist die Diskussion darüber, die Strafmündigkeit zu senken. Das sinnvoll umzusetzen, würde eine enorme Menge an Geld und Personal erfordern, man müsste ein ganz neues System erschaffen. In der Schweiz liegt die Strafmündigkeit bei 10 Jahren, aber da gibt es eigene Einrichtungen und ausgefeilte Therapien für straffällige Kinder, sodass diese nicht schlechter aus den Schutzmaßnahmen herauskommen als sie hineingegangen sind. Das ist aber weltweit eine Ausnahme.


Wird es dem Leid der Hinterbliebenen gerecht, wenn bei Kindern, die einen Mord begehen, Täterschutz und Resozialisierung so stark im Vordergrund stehen?

Der Ruf nach Gerechtigkeit ist hier fehl am Platz. Es geht um Recht, nicht um Wiedergutmachung und Schuld. Der – aus Sicht von Hinterbliebenen – verständliche Ruf nach Sühne würde eine Rehabilitation/Resozialisierung verhindern. Ein liberaler demokratischer Staat muss damit leben, dass Kinder, egal, was sie getan haben, nicht durch Wegsperren im Gefängnis bestraft werden, weil dort nicht der Ort für die Aufarbeitung vorhandener Defizite ist und prosoziales Handeln nicht ausreichend gestärkt wird.

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