Thema: Ängste
Angst oder Angststörung?
Angst haben fast alle Menschen. Vor Prüfungen, vor Wespen oder davor, nachts Opfer eines Verbrechens zu werden. Doch ab welchem Punkt ist Angst eine psychische Erkrankung? Von einer Angststörung spricht man, wenn Menschen ohne reale Bedrohung starke Angst haben. Und wenn sie das, was sie ängstigt, zu vermeiden suchen. So kann man Angst vor Spinnen haben, aber trotzdem mit Gruseln allein in den Keller gehen (gesund), oder man kann seinen Partner nötigen, jeden Raum nach Spinnen abzusuchen, bevor man ihn betritt (nicht gesund).
In Deutschland ist jedes zehnte Kind von Ängsten betroffen, Mädchen zwei- bis viermal mehr als Jungen. Wie bei allen psychischen Erkrankungen ist eine möglichst frühe Behandlung wichtig, damit sich Ängste nicht verfestigen können.
Im folgenden thematisieren wir diejenigen Ängste, die bei Kindern und Jugendlichen am häufigsten auftreten. Und wir präsentieren ein aufschlussreiches Interview, das wir mit Fachärztin Türksen Tezcek-Ince aus Hannover geführt haben.
Trennungsangst
Das Bild des Dreijährigen, der sich am Eingang der Kita heulend und schreiend an seine Mutter klammert, kennt jeder. Man ist geneigt, über mögliche Erziehungsfehler der Eltern nachzudenken, aber das Kind könnte auch eine Trennungsphobie haben. Das heißt, das Kind hat eine unerträgliche Angst davor, seine Bezugsperson(en) nie mehr zu sehen, wenn es sich trennt. Es ist überzeugt, dass entweder der Bezugsperson etwas Schreckliches zustoßen wird oder dass es selbst entführt wird oder verlorengeht. So kämpft es mit allen Mitteln darum, bei der Bezugsperson zu bleiben.
Bei manchen Kindern treten in der Trennungssituation Übelkeit, Bauch- oder Kopfschmerzen auf. Trennungsängste sind mit kognitiver Verhaltenstherapie behandelbar – auch schon bei Vorschulkindern. Bei Jugendlichen, die wegen Trennungsängsten nicht in die Schule gehen und kaum das Haus verlassen können, ist manchmal ein stationärer Aufenthalt in der Psychiatrie angezeigt. Wenn Sie noch mehr über Trennungsängste erfahren wollen, schauen Sie doch mal auf jugendpsyche.de .
Soziale Angststörung
Für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, die an einer sozialen Angststörung leiden, ist das Leben ein einziger Hindernislauf. Sie haben solche Angst, etwas Falsches zu sagen oder zu tun und daraufhin Kritik, Ablehnung oder eine Blamage zu erleben, dass sie soziale Situationen um jeden Preis zu meiden versuchen. Das kontinuierliche Vermeiden von sozialem Umgang führt oft ungewollt zu sozialer Isolation und Einsamkeit.
Findet sich ein betroffenes Kind trotz aller Vermeidung in einer sozialen Situation, die die beschriebenen Ängste auslöst, reagiert es oft mit Weinen, beharrlichem Schweigen oder dem Rückzug aus der Situation. Kennzeichnend für die soziale Angststörung: Innerhalb der eigenen Familie oder im Umgang mit vertrauten Menschen verhält sich das Kind entspannt und unbefangen.
Die soziale Angststörung wird leider oft nicht erkannt, weil sie als Schüchternheit eingeordnet wird. Hier müssen Eltern und Erzieher*innen stärker sensibilisiert werden, denn den Betroffenen kann mit kognitiver Verhaltenstherapie gut geholfen werden.
Spezifische Phobien
Eine spezifische Phobie liegt vor, wenn ein Kind mit starker Angst auf ein bestimmtes Objekt oder Lebewesen reagiert und alles tut, um die Konfrontation damit zu vermeiden. Typische Angst-Objekte sind Hunde, Spinnen, Insekten, Gewitter und Spritzen.
Werden sie unversehens mit ihrem Angst-Objekt konfrontiert, reagieren die Betroffenen mit übertriebener Angst bis hin zur Panik. Sie zittern und schwitzen, bekommen Herzrasen oder Bauchschmerzen. Manche trauen sich nicht mehr allein vor die Tür aus Angst, zum Beispiel einem Hund zu begegnen oder in ein Gewitter zu geraten und schwer verletzt zu werden. Im Extremfall gehen betroffene Kinder und Jugendliche deshalb auch nicht mehr in die Schule.
Spezifische Phobien werden nahezu immer mit einer Konfrontationstherapie behandelt, in der das Kind zuerst lernt, sich zu entspannen und zu beruhigen. Dann stellt es sich dem angstauslösenden Objekt – zunächst mit Abstand und in Begleitung des Therapeuten oder der Therapeutin – später immer näher und schließlich auch allein. Die Behandlung hat sehr gute Erfolgschancen.
Interessanterweise kann nahezu jedes Objekt zum Angst-Objekt werden. So reagieren manche Menschen phobisch auf Knöpfe, Gelächter oder Knoblauch.
Generalisierte Angststörung
Anhaltende, unkontrollierbare und übersteigerte Sorgen in mehreren Lebensbereichen zeichnen die generalisierte Angststörung aus. Betroffene Kinder und Jugendliche machen sich beispielsweise diffuse aber tiefe Sorgen um die eigene Gesundheit und die ihrer Lieben, um ihre Leistungen in der Schule und um gesellschaftliche Entwicklungen. Das ständige Grübeln führt bei vielen zu Anspannung, Müdigkeit, Konzentrationsproblemen und Schlafstörungen. Auch Magen- oder Kopfschmerzen können als Symptome auftreten.
Die generalisierte Angststörung geht oft mit einem negativen Selbstbild und einem niedrigen Selbstgefühl einher. Die Quelle der Sorgen ist bei vielen Betroffenen schwierig zu bestimmen. Deshalb spielen in der Behandlung Achtsamkeitstraining und Entspannungstechniken meist eine größere Rolle als in der klassischen Verhaltenstherapie, die sich bei den meisten anderen Angsterkrankungen als wirksam erwiesen hat.
Fragen an Fachärztin Türksen Tezcek-Ince
Ängste gehören statistisch zu den häufigsten psychischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen. Erleben Sie das in Ihrer Praxis auch so?
Auf jeden Fall. Und sie haben während der Corona-Pandemie deutlich zugenommen - eine Folge der Isolation und des verstärkten Medienkonsums. Bei vielen Kindern und Jugendlichen, die vorher schon Ängste oder Depressionen hatten, haben sich die Symptome verstärkt. Und es gibt viele Kinder und Jugendliche, die zum ersten Mal eine solche Symptomatik entwickelt haben.
Können die Kinder- und Jugendpsychiater*innen den gestiegenen Bedarf bewältigen?
Nicht so wie wir es uns wünschen würden. Die Wartezeiten für eine Therapie haben sich verlängert. Es dauert teilweise mehrere Monate, bis wir ein Kind oder einen Jugendlichen mit psychischen Problemen behandeln können. Notfall-termine im Rahmen der Krisenintervention können wir natürlich anbieten.
Welche Ängste begegnen Ihnen am Häufigsten?
Vor allem die sozialen Ängste haben zugenommen. Schwierigkeiten, Kontakte zu knüpfen und sich anderen zu öffnen, haben sich durch die Kontaktbeschränkungen verstärkt, und damit auch die Schulangst. Häufig sind auch spezielle Phobien, zum Beispiel die Angst vor Menschenansammlungen oder engen Räumen. Die Betroffenen gehen dann gar nicht mehr zu Veranstaltungen. Und wir haben als Folge der Pandemie viele Kinder mit Verlustängsten und Ängsten vor Krankheiten gesehen.
Wie sehr sind die betroffenen Kinder und Jugendlichen im Alltag eingeschränkt?
Manche sind sehr eingeschränkt, da die Symptomatik bei der sozialen Phobie dazu führen kann, dass die Betroffenen die Wohnung oder sogar ihr Zimmer nicht mehr verlassen. Diese Ängste abzubauen, erfordert ein sehr behutsames Vorgehen. Manchmal geht das ambulant, oft werde diese Patient*innen aber teilstationär oder stationär behandelt. Danach werden die Kinder in Abstimmung mit den Lehrern schrittweise wieder an den Schulbesuch herangeführt.
Welche Alarmzeichen für Angststörungen gibt es?
Eltern sollten alarmiert sein, wenn sie bemerken, dass das Kind bestimmte Situationen um jeden Preis meidet. Körperliche Symptome, die auftreten, wenn das Kind akut Angst hat, sind Herzrasen, Zittern, Schwitzen, Atembeschwerden und Schlafstörungen. Infolge der Schlafstörungen wirken die Betroffenen oft müde, kraftlos und erschöpft und ziehen sich stark zurück. Im Kita-Alter treten oft Trennungs- und Verlustängste auf, dann sind die Kinder extrem anhänglich und reagieren vollkommen aufgelöst, wenn die Bezugsperson sich entfernt.
Was raten Sie Eltern, die den Verdacht haben, Ihr Kind könne an einer Angststörung leiden?
Man sollte das Kind in ruhigem Ton darauf ansprechen, ihm Mut machen und ihm Hilfe und Unterstützung anbieten. Wenn sich der Verdacht erhärtet, sollte man so schnell wie möglich professionelle Hilfe suchen. Je früher Ängste behandelt werden, desto leichter und schneller können sie abgebaut werden.
Gibt es oft Fälle, wo Sie denken, das Kind hätte schon viel früher einem Facharzt vorgestellt werden sollen?
Ja. Es ist nicht selten, dass die Symptomatik schon seit zwei oder drei Jahren, manchmal noch länger, besteht, bevor Kinder zu mir in die Praxis kommen. Die Ängste – oder auch andere psychische Krankheiten wie Depres-sionen – sind dann schon chronifiziert und viel schwerer zu behandeln. Angststörungen haben oft einen schleichenden Verlauf, sodass Eltern sie lange nicht als echtes Problem wahrnehmen. Zudem werden psychische Krankheiten immer noch tabuisiert. Vielen Eltern fällt es deshalb schwer, sich an eine psychiatrische Praxis zu wenden. Ich bin deshalb sehr glücklich darüber, dass die psychiatrischen Fachverbände und die Stiftung „Achtung!Kinderseele“ sich gemeinsam für ein Ende der Tabuisierung einsetzen.
Wie läuft die Behandlung einer Angststörung typischerweise ab?
Am Beginn steht eine eingehende Anamnese mit dem betroffenen Kind oder Jugendlichen und seinen Eltern. Wir nehmen alle Symptome auf und schauen uns die Familiengeschichte sowie die Geschichte der Krankheit an. Daran schließt sich die genaue Diagnostik mithilfe von Fragebögen und Verhaltensbeobachtungen an. Dann beschäftigen wir uns im Rahmen der Psychoedukation intensiv mit der Angst und versuchen, die Bewertung der Angstauslöser zu verändern. Wir bringen die Patient*innen also dazu, alle angstauslösenden Situationen und alle Eventualitäten im Kopf durchzuspielen und so zu einer realistischeren Einschätzung von Situationen zu kommen, die ihnen Angst machen. Wenn die Patient*in dies verinnerlicht hat, beginnen wir mit dem Reiz-Konfrontationsverfahren. Wir fragen sie, was sie sich zutrauen und probieren wollen, und führen sie schrittweise immer näher an die angstauslösende Situation heran – zuerst in Begleitung, dann auch alleine. So kann das Selbstvertrauen langsam wachsen.
Werden auch Medikamente eingesetzt?
In manchen Fällen ja, wobei es in meiner Praxis selten vorkommt. Bei sehr starken, chronifizierten Ängsten ist es manchmal notwendig, angstlösende Medikamente einzusetzen, um die Behandlung zu unterstützen. Das sind meist moderne SSRIs, also Serotonin-Wiederaufnahme-hemmer, die normalerweise kaum Nebenwirkungen haben.
Was ist das Ergebnis einer erfolgreichen Behandlung?
Kann die Angst vollkommen verschwinden oder lernen die Betroffenen nur, besser damit umzugehen?
Eine Behandlung ist erfolgreich, wenn kein Vermeidungsverhalten mehr auftritt und die körperlichen Symptome ganz oder sehr stark zurückgehen. Bei chronifizierten Verläufen ist es ein Erfolg, wenn die Patient*innen den Umgang mit der Angst lernen und diese durch kognitive Verfahren und Entspannungstechniken so stark zurückgeht, dass sie ein weitgehend normales Leben führen können.
Ist die Behandlung nachhaltig?
In den meisten Fällen ja. In sehr schwierigen Lebenssituationen oder bei starkem Stress kann es sein, dass die Symptome zurückkehren.
Was können Eltern tun, um der Entwicklung von Angststörungen bei Ihren Kinder vorzubeugen?
Eltern sind für ihre Kinder Modelle und Vorbilder. Wenn Kinder die Eltern als offen und mutig wahrnehmen, können sie leichter ein stabiles Selbstbewusstsein entwickeln. Eltern wappnen ihre Kinder gegen Ängste, wenn sie sie zu Selbständigkeit erziehen und soziale Kontakte fördern. Gut ist auch, ihnen kleine Aufgaben im Alltag zu übertragen und sie zu loben, wenn sie diese bewältigt haben. Und: Wenn Eltern selbst unter Ängsten leiden, sollten sie sich einer Behandlung stellen, da sich Ängste der Eltern oft auf die Kinder übertragen.
Weitere Informationen
Ein hoch interessanter Online-Vortrag zum Thema Angststörungen ist auf der Homepage der DGKJP zu finden.