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Interview mit Prof. Dr. Gerd Lehmkuhl

Wildblumen

Prof. Dr. Gerd Lehmkuhl (c) Ralph von Kaufmann

15. Juni 2020

​Was bedeutet die Corona-Situation für Kinder und Jugendliche? Und was ist mit denen, die psychisch belastet sind? Haben Kinder Zukunftsängste? Prof. Dr. Gerd Lehmkuhl gibt Antworten

Was bedeutet die Corona-Situation für Kinder und Jugendliche? Und was ist mit denen, die psychisch belastet sind? Haben Kinder Zukunftsängste?

Prof. Dr. Gerd Lehmkuhl, emeritierter Professor und ehemaliger, langjähriger Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters an der Universität zu Köln hat uns Antworten gegeben. Er ist Gründer und langjähriger Vorstandsvorsitzender der Stiftung „Achtung!Kinderseele“. Aktuell engagiert er sich u.a. in der Psychotherapeutischen Ambulanz für Kinder und Jugendliche der Akademie für Psychotherapie und Interventionsforschung an der Universität Potsdam. Seine Antworten lesen Sie im folgenden Interview. 


  Prof. Dr. Gerd Lehmkuhl: Man traut es sich kaum zu sagen, doch im Privaten war ich in den vergangenen Monaten von der Corona-Pandemie nicht allzu stark beeinträchtigt. Ich bin mit den entsprechenden kleineren Einschränkungen, wie dem Tragen der Maske in der U-Bahn, meinem gewohnten Alltag nachgegangen. Aber meine Beobachtungen davon, wie sich die Situation auf andere gesellschaftliche Gruppen ausgewirkt hat und weiterhin auswirkt, sind drastisch. Das erlebe ich zum einen hautnah in der Psychotherapeutischen Ambulanz für Kinder und Jugendliche der Akademie für Psychotherapie und Interventionsforschung an der Universität Potsdam. Zum anderen ist es meine Einschätzung der gesamtgesellschaftlichen Situation in Deutschland, die u.a. auf Berichten vieler Kolleginnen und Kollegen basiert.      Ich beobachte, dass die Corona-Pandemie die Gesellschaft polarisiert und sich dabei ganz klar zwei Gruppen mit ungleichen Chancen herausbilden. Eine Gruppe, die Ressourcen hat, auf die Krise zu reagieren und eine, die sie nicht hat. Ressourcen waren bereits vor Corona ungleich verteilt. Die Krise bringt diese Ungleichheit nun noch stärker hervor. Die gesellschaftliche Gruppe, die Kompensationsmöglichkeiten hat, um auf die Krise zu reagieren, ist gut gestellt. Die Gruppe, die eben diese Möglichkeiten nicht hat, kommt doppelt zu kurz. Familien, die zuhause Raum und Ausweichmöglichkeiten haben, kommen besser zurecht als solche, die mit einer mehrköpfigen Familie in einer Zweizimmerwohnung leben. Dies gilt auch im gesundheitlichen Bereich. Die Gruppe von psychisch gesunden Menschen, die über gute Bewältigungsstrategien verfügen, ist auch in der Krise gewappnet. Die Gruppe derer, die psychisch vorbelastet sind oder akute Schwierigkeiten haben, ist doppelt belastet.     Kinder mit psychischen Auffälligkeiten und Erkrankungen kommen grade viel zu kurz. Man könnte sagen, sie wurden vom System vergessen. Hilfe, die teilweise dringend benötigt wird, kommt nur noch stark eingeschränkt oder gar nicht mehr an. Das gesamte Versorgungssystem für psychisch Erkrankte war in den vergangenen Monaten stark eingeschränkt. Kliniken hatten und haben teilweise ihre Ambulanzen geschlossen. Notwendige therapeutische und diagnostische Schritte wurden und werden auf Eis gelegt oder gar nicht durchgeführt.     Ja, das stimmt. Vielfach wurden laufende Behandlungen von den Betroffenen oder ihren Familien selbst unterbrochen oder abgebrochen. Dort wo sie weiter stattfinden sind sie durch Maßnahmen wie das Maskentragen oder die Umstellung auf Video-Behandlungen stark eingeschränkt. Die betroffenen Kinder und Jugendlichen sind durch die verschiedenen Maßnahmen gehemmt und teilen sich nicht so unbefangen mit wie sonst. Dies führt auch zu einer erhöhten Kindeswohlgefährdung, weil Kinder in der aktuellen Krise viel weniger gehört werden als sonst. Viele Kinder, die ihrerseits in einer akuten Krise sind, können sich grade nicht mitteilen, oder ihre Sorgen nach außen kommunizieren.      Nach meiner Beobachtung eigentlich nicht oder eher selten. Das gilt natürlich nicht für Kinder und Jugendliche, bei denen bereits vor Corona eine Angst- oder Zwangserkrankung bestand. Allgemein nehmen alle ein Gefühl der Einschränkung wahr. Wenn Kinder und Jugendliche nicht ihren gewohnten Aktivitäten nachgehen können, empfinden sie das auch als belastend. Aber dabei handelt es sich eher um den weitverbreiteten Wunsch nach einer Rückkehr zur Normalität als um eine krankhafte Auffälligkeit.      Nein, das denke ich nicht. Natürlich hängt die Frage, wie gut Kinder die Zeit der Krise überstehen, stark davon ab wie sie zuhause leben. Gibt es Geschwisterkinder? Haben die Eltern Zeit, sich zu kümmern? Auch hier sind die Kinder und Jugendlichen wieder aufgespalten in die zwei Gruppen mit mehr oder weniger guten Ressourcen. Insgesamt haben aber grade Kinder so viel Vitalität und Spontanität und leben so sehr im Moment, dass sie Vieles von dem, was sie während der Corona-Zeit möglicherweise entbehren, später einfach mit Freuden nachholen werden.

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