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Interview mit Prof. Dr. Hans-Henning Flechtner

Wildblumen

Prof. Dr. Hans-Henning Flechtner © Ralph von Kaufmann

4. November 2020

Zur aktuellen Lage in den psychiatrischen Kliniken: Über Erfahrungen der letzten Monate und Perspektiven für die Zukunft

Prof. Dr. Hans-Henning Flechtner ist stellvertretender Präsident und Kongresspräsident der DGKJP*, Direktor der Universitätsklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin des Kindes- und Jugendalters der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg und Mitglied des Vorstandes der Stiftung „Achtung!Kinderseele“. In seinen Positionen befasst er sich auf verschiedenen Ebenen mit der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen und steht in regem Austausch mit Kolleginnen und Kollegen sowie weiteren Akteurinnen und Akteuren im kinder- und jugendpsychiatrischen Bereich.


In ganz Deutschland steigen die Zahlen der Covid-19-Erkrankten wieder an. Wir möchten von Prof. Flechtner erfahren, wie sich die Pandemie auf die Arbeit in der Klinik auswirkt, was wir seiner Ansicht nach aus der ersten Welle lernen konnten und inwieweit uns dies bei der Bewältigung der zweiten Welle stärken kann.


Stiftung „Achtung!Kinderseele“: Ihre Klinik sitzt in Magdeburg, das von der großen Erkrankungswelle im Frühjahr verschont blieb. Nichtsdestotrotz sind die Maßnahmen in der Hygiene und zum Schutz Ihrer Patientinnen und Patienten und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auch bei Ihnen deutlich spürbar gewesen. Was war die größte Herausforderung in dieser Zeit?

Prof. Flechtner: Es hat sich schnell gezeigt, dass es eine Herausforderung ist, einen Mittelweg zwischen Infektionsschutz und Versorgung zu finden. Die KJPP-Klinik in Magdeburg ist Bestandteil eines großen Geländes mit miteinander verbundenen Häusern. Wir hatten also das Problem, dass unsere Patientinnen und Patienten potentiell mit denen anderer Fachbereiche in Kontakt kommen konnten. Das haben wir z.B. durch bauliche Veränderungen wie einen separaten Eingang behoben. Gleichzeitig mussten wir zum Schutz unserer kleinen und teilweise jungen Patientinnen und Patienten die Belegungszahlen der Betten reduzieren. So wurden z.B. aus Doppelzimmern Einzelzimmer. Natürlich war die Notaufnahme durchgehend geöffnet und besetzt.


Sie haben also weniger Patientinnen und Patienten aufgenommen. Bei Ihnen bleiben die Kinder und Jugendlichen in der Regel auch über einen längeren Zeitraum in der Klinik. Wie gestaltet sich das in der aktuellen Zeit?

Für Kinder, die bei uns aufgenommen werden, wird ein Therapiekonzept erarbeitet. Dieses kann aus verschiedenen Modulen bestehen wie z.B. Einzelgesprächen, Gruppengesprächen, Logopädie, Außenaktivitäten, Familiensitzungen, Maltherapie oder Physiotherapie. Das Konzept beruht auf der Annahme, dass unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor Ort sind und die Familiensitzungen mit den Eltern in der Klinik stattfinden. Kinder auf der Station fahren in der Regel an den Wochenenden zur sogenannten Belastungserprobung zu ihren Familien nachhause. Diese Besuche am Wochenende lassen sich auch kaum einschränken. Schließlich arbeiten wir mit sensiblen Kindern, die teilweise erst vier oder fünf Jahre alt sind, und brauchen deshalb den intensiven therapeutischen Kontakt mit den Familien.

Gleichzeitig ist es wichtig, auf die Bedarfe und Wünsche der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einzugehen. Auch hier gab es Unsicherheiten. Im ambulanten Bereich konnten wir teilweise Homeoffice mithilfe von Videokonferenzsystemen ermöglichen.


Das Arbeiten im Homeoffice war für viele Eltern in der Zeit des Lockdowns eine Möglichkeit, Beruf und Familie zu vereinen. Warum gibt es dazu in Bezug auf Therapie via Video Vorbehalte?

Grundsätzlich ist das persönliche Gespräch mit der Patientin oder dem Patienten in einem gesicherten und neutralen Ort die Basis unserer Arbeit. Das sollte auch weiterhin das Ziel sein. Bei einer Videokonferenz können wir nicht sicher sein, ob z.B. die Mutter hinter der Tür steht und – ohne dass wir davon wissen – mithört. Zudem ist die Wahrnehmung auf beiden Seiten eingeschränkter. Wir sehen weniger die feinen Details z.B. in den Gesichtszügen und nur einen bestimmten Ausschnitt des Körpers. Auch ich merke, dass bei längeren Konferenzen im Videoformat die Fokussierung nach einiger Zeit nachlässt. Dieses Format funktioniert eher mit größeren Kindern. Für Gruppensitzungen gestaltet sich das schwierig bis unmöglich.


In der Vorbereitung auf dieses Gespräch haben wir überlegt, ob schon erste Auswirkungen der psychischen Belastungen durch die Pandemie im Klinik-Alltag zu spüren sind. Ist diese Annahme noch verfrüht?

Wir können das noch nicht einschätzen. Unsere Warteliste für Plätze in der Kinder- und Jugendpsychiatrie wird länger. Das hängt aber auch damit zusammen, dass wir aufgrund unseres Hygienekonzeptes immer noch mit einer reduzierten Belegungszahl arbeiten. Man hört auch von der These, dass resiliente Menschen in Krisensituation wie z.B. zu Kriegszeiten stark und stabil bleiben. Psychische Belastungen kommen in diesen Fällen oft erst deutlich später zum Vorschein.


Was können wir aus der ersten Corona-Welle im Frühjahr 2020 lernen? Worauf sollten wir achten?

Es scheint, dass Kinder gerade im jüngeren Alter nicht zu der großen Gruppe von Überträgern und Erkrankten gehören. Wir sollten versuchen, eine gewisse Art der Normalität zu bewahren, indem wir z.B. Schulen und Kitas geöffnet lassen und nur zeitweise bei Infektionen schließen. Die Isolation in den Familien hat teilweise zu Konflikten und Übergriffen geführt. Für einige Kinder aus sozial schwächeren Familien war während des Lockdowns ein regelmäßiges Mittagessen zuhause nicht gewährleistet. Auch deswegen ist es umso wichtiger, Schulen und Kitas nicht zu schließen. Die Lage ist sehr divers, man kann nicht alles negativ sehen. Es gibt auch Familien, die durch diese gemeinsame Zeit gewonnen haben. Elternteile konnten ihre Kinder mehr wahrnehmen und mit ihnen neue Rituale entwickeln wie z.B. gemeinsame Spiele spielen oder das gemeinsame Musizieren.


Sie besetzen mehrere Positionen. Zum einen sind Sie Klinikdirektor, zum anderen im Vorstand des Fachverbands DGKJP und der Stiftung „Achtung!Kinderseele“. Welche Herausforderungen sehen Sie auf sich und Ihre Kolleginnen und Kollegen zukommen?

Dieses Jahr hat vieles zum Erliegen gebracht. Fachkongresse, Weiterbildungs- und Qualifizierungsseminare konnten nicht oder nur virtuell stattfinden. Das dient auch immer dem Austausch unter Kolleginnen und Kollegen. Diskussionen und Kommissionen wurden ausgesetzt und müssen jetzt wieder neu angeschoben werden. Viele Informationen werden per E-Mail ausgetauscht. Das ist wertvoll, es kann den persönlichen Austausch aber natürlich nicht ersetzen. Wir als Kinder- und Jugendpsychiaterinnen und -psychiater stehen vor der Herausforderung, unsere Behandlungskonzepte zu beleuchten und dafür auch einmal auf die Arbeit in unseren Nachbarländern zu schauen. Schließlich sind wir nicht statisch. Gleichzeitig stehen Fragen zum wirtschaftlichen Betrieb von Kliniken im Raum. Wieviel Personal braucht es, um eine Klinik am Laufen zu halten? Für die niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen stellen sich ähnliche Fragen. Wie stark muss und darf meine Praxis ausgelastet sein? Wie integriere ich größere Pausen zwischen den Patientinnen und Patienten, um z.B. zu lüften?


Welchen Wunsch für die Zukunft und das kommende Jahr haben Sie persönlich?

Das ist eine schöne Frage. Eine gewisse Art von Rückkehr in eine Normalität wünsche ich uns allen. Dass wir aus dieser Kraft kostenden Zeit auch mit Lernerfahrungen herausgehen und unsere Prioritäten auf verschiedenen Ebenen überdenken – und das dann auch beibehalten. Ich würde es begrüßen, wenn der Mensch den Blick nicht nur auf sich selbst, sondern auf unsere Gesellschaft richtet. Wir leben in einem sozialen Gefüge, das unabdingbar auf Gemeinschaft aufbaut.




* Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e.V.


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