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Jugendliche mehr wertschätzen: Interview mit einem Facharzt

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"Die Belastung durch das Schulsystem ist sehr groß"

Dr. Ekkehart D. Englert, Facharzt für Kinder- und Jugendpsy-chiatrie und -psychotherapie und Klinikdirektor in Erfurt, hält für die Stiftung "Achtung!Kinderseele" seit 2022 regelmäßig Webseminare für Ausbilder:innen und Ausbildungsbegleite-r:innen. Wir haben mit ihm u.a. über aktuelle Entwicklungen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie gesprochen, aber auch über Möglichkeiten, Jugendliche mit Autismus und ADHS in Ausbildung zu bringen - und über die Notwendigkeit, das Schulsystem zum Wohle der Kinder und Jugendlichen und der Gesellschaft insgesamt grundlegend zu reformieren.

Herr Dr. Englert, wir sind sehr dankbar, dass Sie uns im Programm „Meister von Morgen“ als Referent unterstüt-zen. Und so dazu beitragen, dass Auszubildende auf ein Umfeld treffen, das auf mögliche seelische Belastungen und Erkrankungen vorbereitet ist und Wege zur Unter-stützung und Hilfe kennt. Welchen Mehrwert ziehen Sie selbst aus Ihrem Engagement?

Ich bin immer froh, wenn ich mit Angehörigen anderer Berufsgruppen zu tun habe und mit ganz anderen Lebens-welten. In der stationären Kinder- und Jugendpsychiatrie endet die Behandlung ja üblicherweise mit 18. Aber in meiner Ambulanz habe ich mittlerweile durch die Langzeit-betreuung auch einige, die bis Mitte 20 noch zu mir kommen. Insofern kenne ich den Übergangsbereich ins Erwachsenenalter und dessen Schwierigkeiten ganz gut. In den Webseminaren finde ich die Diskussionen mit den Teilnehmenden und die aufkommenden Fragen oft sehr interessant. Deshalb mache ich das auch wirklich gerne.

Sie haben schon Seminare für fast 300 Teilnehmerinnen mit sehr diversem Vorwissen zum Thema seelische Gesundheit gehalten. Was ist ihnen dabei am meisten aufgefallen?

Die Seminar-Teilnehmer:innen sind ja Menschen, die sich wirklich viele Gedanken machen über die Auszubildenden, die sie betreuen. Ich merke jedes Mal, dass da viel persönliches Engagement dahintersteckt und sie wirklich versuchen, die jungen Menschen zu unterstützen und Probleme zu lösen. Ich habe großen Respekt vor diesem Engagement und vor der Leistung, die da erbracht wird.

Was sind allgemein die auffälligsten Entwicklungen in Bezug auf die seelische Gesundheit von Jugendlichen in den letzten 25 Jahren?

Das ist eine große Frage. Wir haben natürlich an der Ober-fläche des Geschehens eine massive Zunahme von Patient:innen in allen Bereichen, aber es ist nicht bei allen Störungsbildern so, dass sie tatsächlich häufiger auftreten. Bei ADHS ist zum Beispiel nachgewiesen, dass es in den letzten 20 bis 30 Jahren epidemiologisch keine großen Veränderungen mehr gegeben hat, da sind die Zahlen weitgehend gleich geblieben. Bei anderen Störungen gibt es leichte Zunahmen, aber insgesamt ist es nicht so, dass die Population insgesamt wesentlich kränker wird. Dafür ist die Schwelle, psychosoziale Dienstleistungen jedweder Art in Anspruch zu nehmen, kleiner geworden. Und die Kompensationsmöglichkeiten von familiären Systemen werden geringer. Bei gar nicht so arg steigender Morbidität ist die Resilienz geringer geworden und die Bereitschaft, Hilfe in Anspruch zu nehmen, größer.

Ansonsten haben wir im Fachgebiet von meinem Eindruck her vor allem durch die Weiterentwicklung der Leitlinien in den letzten Jahren eine zunehmende Übereinstimmung, wie wir mit psychischen Störungen umgehen. Ich denke, wenn man in irgendeine kinder- und jugendpsychiatrische Klinik oder zu einem Facharzt geht, kann man heute erwarten, dass bestimmte Standards eingehalten werden. Das war vor 30 oder 40 Jahren durchaus noch anders, das kann ich aus persönlicher Erfahrung sagen. Und wir haben auch deutlich bessere pharmakologische Möglichkeiten, zum Beispiel in der ADHS-Behandlung. Da hat sich sehr viel getan. Auch in der Behandlung von Schlafstörungen haben wir mehr Optionen. Da gibt es wirklich einiges an therapeu-tischen Fortschritten.

Das ist sehr erfreulich. Inwiefern beobachten Sie eine Verschiebung innerhalb der Krankheitsbilder, also mehr Essstörungen bei Mädchen zum Beispiel?

Ja, das gehört zu den Störungen, die in der Häufigkeit tendenziell zugenommen haben, auch schon in den Corona-Lockdown-Jahren. Im Trend sind die Patientinnen auch vom Ersterkrankungsalter jünger geworden. Wir haben bei uns auf der Kinderstation gelegentlich schon vorpubertäre Mädchen mit einem klassischem Bild von Anorexie, schon mit acht oder neun Jahren. Das habe ich vor zehn, zwanzig Jahren nicht erlebt. Entsprechende Berichte gibt es auch aus anderen Kliniken.

Gibt es da bei Jungs eine entsprechende Entwicklung, dass bestimmte Krankheitsbilder signifikant zugenommen haben?

Angststörungen spielen eine ganz wichtige Rolle. Die sind durch die Corona-Jahre und Lockdown-Zeiten massiv getriggert worden. Wo eben junge Menschen mit Angst-störungen dekompensiert sind, die nicht mehr in die Schule gehen durften und dann anschließend auch nicht mehr gegangen sind, weil die Schulängste sich in den Lockdown-Phasen verstärkt haben und unter Umständen chronifiziert sind im Anschluss. Mit den Spätfolgen haben wir noch immer zu tun, also einer Zunahme an Angststörungen, die wir hier in der klinischen Versorgung sehen.

Und wie gut ist es quantitativ um die ambulante und stationäre Behandlung von Kindern und Jugendlichen bestellt? Bekommen Jugendliche mit schweren Erkran-kungen, wie zum Beispiel starken Essstörungen oder Depressionen, in Thüringen oder auch deutschlandweit normalerweise relativ schnell einen Platz?

Das ist regional sehr unterschiedlich, da das Gesundheits-system hierzulande ja föderal organisiert ist. In Thüringen haben wir die zweithöchste Bettendichte an Kinder- und jugendpsychiatrischen Betten in Deutschland nach Sachsen-Anhalt. In Baden-Württemberg müssen die Kollegen dagegen mit einem Drittel der Bettenzahl zurecht-kommen, in Hessen mit etwa der Hälfte. Das heißt in Thü-ringen kommen wir eigentlich mit den bestehenden Betten so zurecht, dass man sagen kann, dass die Wartezeiten, die für Elektivaufnahmen entstehen, verantwortbar sind wir die Notfallpatienten versorgen können.

 

Die ambulante Versorgung ist dagegen gerade in Bundes-ländern mit großen ländlichen Regionen sehr schwierig. In den Gegenden, die dünn besiedelt, sind, sitzt meistens auch kein Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Also müssen die Eltern 50 oder 100 Kilometer über Landstraßen in eine Großstadt fahren. Das ist nach wie vor sehr schwie-rig, auch bei uns in Thüringen. Dazu ist absehbar, dass viele niedergelassen Kolleginnen und Kollegen demnächst in Rente gehen. Und ob sich Nachfolger oder Nachfolgerinnen finden, ist zum Teil recht fraglich.

Es ist also möglich, dass sich das noch zuspitzt. Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten sind einfach sehr schnell ausgebucht durch die relativ niedrigen Patienten-zahlen, die sie pro Jahr versorgen können, aufgrund der langen ambulanten Behandlungsdauern. Wenn man für ei-nen sehr kranken jungen Menschen schnell eine ambulante Behandlung sucht, gibt es leider ein massives Problem.

Führt das dazu, dass die Betroffenen dann eher in eine stationäre Behandlung gehen, weil die sogar noch einfacher bekommen ist?

Zum Teil ja.

Sie haben viel zu den Themen ADHS und Autismus gear-beitet. Gibt es gute Ansätze, Jugendliche mit ADHS und Autismus in Ausbildung zu bringen und die Betriebe zu unterstützen, damit Herausforderungen überwunden werden können?

Im Prinzip gibt es das, sowohl bei ADHS als auch bei Autismus. In der neuen Klassifikation der ICD fällt ja beides in die Kategorie der neuropsychologischen Entwicklungs-störungen. Bei beiden Diagnosen ist es so, dass die Diagnosekriterien an Kindern und Jugendlichen entwickelt worden sind. Und dass es nach wie vor in der Erwachse-nen-Psychiatrie nicht überall angekommen ist, dass diese Störungen auch im Erwachsenenalter existieren. Im universitätsklinischen Bereich ist es möglicherweise noch durchgedrungen, aber in der Versorgung in der Fläche ist es wirklich extrem schwierig für einen jungen Erwachsenen mit ADHS-Symptomatik jemanden zu finden, der ihn
leitliniengerecht medikamentös versorgt. Ich kann hier in Thüringen nur zwei, drei niedergelassene Kollegen aufzählen, die Erwachsene mit ADHS versorgen. Das ist außerordentlich schwierig.

 

Genauso ist es beim Autismus, der im Erwachsenenalter zugegebenermaßen schwieriger zu diagnostizieren ist. Das ist sehr zeitintensiv, da man in der Diagnostik die ganze Lebens- und Entwicklungsgeschichte rekonstruieren muss. Deshalb wird Autismus oft fehldiagnostiziert oder verkannt. Oder die Betroffenen bekommen gar eine Schizophrenie-Diagnose und entsprechende Medikamente. Da gibt es noch eine große Herausforderung in der Transition vom Kindes- und Jugendalter zum Erwachsenenalter hin.
 

Wenn die Diagnostik und die Behandlung angemessen erfolgt, sind viele ADHS- und Autismus-Betroffene gut in das Berufsleben integrierbar. Es gibt auch diverse Instru-mente der Bundesagentur für Arbeit in Form unterstützter Beschäftigung, Arbeitsassistenz etc. Eigentlich gibt es ein ziemlich gutes Instrumentarium, um Jugendliche mit seelischen Behinderungen in der Ausbildung begleiten zu können. Aber dazu muss natürlich zunächst die Diagnostik fachlich gut sein. Und die Betreffenden müssen therapeu-tisch begleitet werden. Das Instrumentarium ist da. Es muss nur optimal genutzt werden.

Bei ADHS kann man ja viel mit einer guten Medikation viel erreichen. Gibt es das bei Autismus auch Fortschritte?

Nein, es gibt nach wie vor kein anti-autistisches Medika-ment. Autismus ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung der Persönlichkeit. Aber das Besondere bei Autismus ist, dass die Entwicklung oftmals zeitversetzt verläuft. Das heißt, wir sehen auch bei Menschen mit Mitte oder Ende 20 noch ganz viel an Weiterentwicklung. Und gerade die kognitiv durchschnittlich oder überdurchschnittlich Begab-ten lernen immer noch weiter sozial hinzu, wie wir aus Längsschnittstudien wissen. Sie verstehen immer besser, wie die sozialen Systeme funktionieren, wie Gesellschaft funktioniert, wie man angemessen kommuniziert, wie man angemessen reagiert. Das sind Lernprozesse, die bei Menschen mit Autismus nicht automatisch verlaufen wie bei nicht-autistischen Menschen, die das einfach so mitbekommen. Sondern es ist ein mühsamer, aktiver Lernprozess, der viel Mühe kosten.

 

Die Betroffenen können selbst sehr gut beschreiben, wie viel Anstrengung sie das kostet. Sie üben zum Beispiel immer wieder vor dem Spiegel, wie man jemanden freundlich anguckt oder andere passende Gesichtsausdrücke aufsetzt. Ungefähr 20 Prozent der Betroffenen mit Autismus-Spektrums-Diagnosen schaffen es, die Diagnose im Laufe ihres Lebens hinter sich zu lassen. Das sage ich auch immer den Eltern von Betroffenen. Aber es braucht sehr viel Geduld und Zeit.
 

Dann habe ich noch eine letzte Frage: Wenn Sie sich von der neuen Bundesregierung etwas wünschen könnten, um die Situation von psychisch belasteten oder erkrankten Kindern und Jugendlichen zu verbessern, was wäre das?
 

Ich würde mir wünschen, dass man endlich erkennt, wie wichtig die nachfolgenden Generationen sind. Denn momentan ist es so, dass sich die Parteien durch die Bank weg primär um die älteren Menschen kümmern, die natür-lich einen Großteil des Wahlvolks darstellen. Einerseits haben wir Angst vor Fachkräftemangel, andererseits tole-
rieren wir, dass es viel zu viele Schulabbrecher gibt. Jugendliche, die ohne jeden Abschluss die Schule verlas-sen, weil sie vielleicht chronisch überfordert waren oder weil niemand genau hingeguckt und sich wirklich um ihre Lernschwierigkeiten gekümmert hat. Leider haben wir ein Schulsystem, dessen Wurzeln im 19. Jahrhundert liegen und das sich seitdem nicht wirklich verändert hat. Das heißt, dass Lernschwierigkeiten oft disziplinarisch beant-wortet werden. Da werden Jugendliche als faul oder bequem abgestempelt und bekommen zu hören, dass sie es sowieso nicht schaffen werden, und dann tritt das halt auch ein.

 

Um dieses völlig verkrustete, veraltete Schulsystem zu reformieren, müsste man sehr viel Geld in die Hand nehmen. Für kleinere Klassen, bessere Schulen, eine bessere Ausstattung der Schulen. Allein schon das Aussehen vieler Schulen heute drückt keine wertschät-zende Haltung der Gesellschaft gegenüber Kindern und Jugendlichen aus. Wenn Jugendlichen in gammeligen Schulhäusern mit verdreckten Toiletten unterrichtet werden, ist das eine schlechte Motivation. Schule ist in Zeiten der Ganztagsschule ja nicht nur eine reine Bildungs-institution, sondern auch Lebensraum.

 

Wir brauchen also viel kleinere Klassen und eine Individuali-sierung der Pädagogik statt große Klassen, wo man dann noch zwei bis fünf sozial auffällige Schüler und ein autistisches Kind reinsteckt, sodass die Lehrer notorisch überfordert sind, weil sie das gar nicht alles leisten können. Das müsste unbedingt angegangen werden, aber es ist teuer und durch das föderale System auch kompliziert. Wir sehen bei uns in der Klinik, wie stark viele Kinder und Jugendliche an der Schule leiden. Wenn Sommerferien sind, haben wir nur wenige Notfälle. Und am ersten Schultag geht es dann gleich los, dass der Krankenwagen wieder mit Akutpatienten kommt. Die Belastung durch das vollkommen unangemessene Schulsystem ist sehr groß. Eine Reform wäre die erste und wichtigste Art von Gesundheitsprävention im Kindes- und Jugendalter.

Über die Stiftung

Die Stiftung Achtung!Kinderseele wurde 2009 von den Fachgesellschaften für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -Psychotherapie (DGKJP, BAG, BKJPP) gegründet.

Wir setzen uns in enger Zusammenarbeit mit ehrenamtlich engagierten Fachärztinnen und Fachärzten für die Stärkung der seelischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen ein.

Stiftung Achtung!Kinderseele

c/o HST Hanse StiftungsTreuhand GmbH
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