Fokus auf Adoleszenz-Phase: Interview mit einer Klinikdirektorin

"Wir müssen bessere Netzwerke schaffen"
Prof. Dr. med. Sarah Hohmann engagiert sich seit 2024 als Referentin in unserem Programm „Meister von Morgen“. Sie ist Leiterin der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätskrankenhaus Eppendorf (UKE) in Hamburg, in der über 100 Mitarbeiter:innen fünf Stationen, vier Tageskliniken sowie rund 4000 ambulante Patient:innen pro Jahr betreuen. Zu den Forschungsschwerpunkten von Prof. Hohmann zählen Verhaltensstörungen wie ADHS sowie Störungen der Emotionsregulation. Klinisch liegt ihr Augenmerk neben der Behandlung von ADHS vor allem auf der Adoleszenten-Psychiatrie. Wir haben mit Prof. Hohmann, die auch Vorstandsmitglied der Fachgesellschaft DJKJP ist, über ihr Engagement für die Stiftung „Achtung!Kinderseele“ und aktuelle Entwicklungen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie gesprochen.
Liebe Frau Professor Hohmann, wir sind sehr dankbar, dass Sie uns im Programm "Meister von Morgen" als Referentin unterstützen, vor allem indem Sie in Hamburg analoge Seminare für Berufsschullehrerinnen geben. Sie tragen dazu bei, dass Auszubildende auf ein Umfeld treffen, das auf mögliche seelische Belastungen und Erkrankungen vorbereitet ist und Wege zur Unterstützung und Hilfe kennt. Welchen Mehrwert ziehen Sie selbst aus Ihrem Engagement?
Ich bin überzeugt, dass die Unterstützung und Behandlung von psychisch erkrankten jungen Menschen eher nur gemeinschaftlich und sozialsystemübergreifend funktionieren kann. Und dass es deswegen ganz wichtig ist, dass die relevanten Akteure sich vernetzen, also wir als Psychiatrie mit den Schulen, den Berufsschulen und mit sozialen Einrichtungen. Dann können wir von unserer Seite die psychiatrische, psychotherapeutische Expertise einbringen, aber ohne die Zusammenarbeit kann es im Alltag der Patientinnen nicht nachhaltig funktionieren. Also müssen wir Netzwerke schaffen und gut zusammenarbeiten. Deswegen finde ich es total sinnvoll, mich bei „Meister von Morgen“ zu engagieren.
Als Direktorin der Kinder- und Jugendpsychiatrie am UKE legen Sie einen Schwerpunkt auf die Adoleszenten-Psychiatrie. Am UKE gibt es eine eigene Adoleszentenstation mit 21 stationären und acht tagesklinischen Behandlungsplätzen. Was interessiert Sie so besonders an der Behandlung von Jugendlichen am Übergang ins Erwachsenenalter und welche besonderen Herausforderungen sind damit verbunden?
Das ist eine ganz besonders wichtige Patient:innengruppe, die manchmal nicht genug Beachtung findet. Wichtig deswegen, weil es am Übergang zwischen Jugend- und Erwachsenenalter sehr viele Entwicklungsaufgaben zu bewältigen gilt – also z.B. den Schulabschluss, das Ausziehen von zu Hause, erste Partnerschaften. Dabei werden die Weichen ins Erwachsenenalter und hin zu einer nachhaltig guten Entwicklung gestellt. Und gleichzeitig ist es die Zeit, wo die meisten psychischen Erkrankungen beginnen. Dadurch können die jungen Menschen davon abgehalten werden, ihre Entwicklungsaufgaben zeitgerecht zu erfüllen. Deswegen ist das ein Lebensphase, wo man viel investieren und Unterstützung bieten muss, um auch denen einen gelingenden Übergang ins Erwachsenenleben zu ermöglichen, die von einer psychischen Erkrankung betroffen sind. Die Altersgruppe läuft aber immer Gefahr, ein bisschen hinten runter zu fallen, weil es eben diese Grenzsituation gibt: Es gibt die Kinder- und Jugend-psychiatrie, die im stationären Bereich meist bis 18, im ambulanten Kontext meist bis 21 behandelt. Und dann gibt es die Erwachsenenpsychiatrie. Eine ähnliche Trennung gibt es auch in den anderen Sozialsystemen, zwischen Jugend- und Eingliederungshilfe. Die Patient:innen verlieren also Ärzt:innen und Therapeut:innen, die sie lange kennen, und bekommen vielleicht nicht unmittelbar Anschlusstermine oder denken, sie können es jetzt auch alleine schaffen. Und dann gehen sie möglicherweise für längere Zeit verloren. Gleichzeitig ist es natürlich auch so, dass die psychiatrischen Stationen für Erwachsene oft gar nicht auf die Bedürfnisse dieser jungen Altersgruppe ausgerichtet sind, sondern eher auf chronisch kranke Patient:innen im mittleren Erwachsenenalter. Und deswegen ist es da wichtig, passgenaue Angebote zu machen für jüngere Patientinnen und Patienten z.B. zwischen 16 und 24, die alle relativ ähnliche Herausforderungen und Erkrankungen haben. Deshalb werden deutschlandweit immer mehr spezifische Angebote für ältere Jugendliche und junge Erwachsene geschaffen, die übergreifend und kooperativ arbeiten, wie z.B. unsere Adoleszentenstation PA1.
Welche Erkenntnisse ergeben sich aus Ihrer Arbeit mit seelisch erkrankten Jugendlichen für unsere Arbeit im Programm "Meister von Morgen"? Gibt es Do's and Don'ts oder Empfehlungen, die Sie Ausbilder:innen in Betrieben und Berufsschullehrerinnen an die Hand geben können?
Da stellt sich beim Auftauchen von psychischen Problemen ja zunächst die Frage, ob man Auszubildende noch an die Kinder- und Jugendpsychiatrie verweist oder doch eher schon an ein:en Erwachsenenpsychiater:in oder -psychotherapeut:in. Deshalb finde ich es wichtig, dass Schulen und Berufsschulen die entsprechenden Netzwerke kennen oder idealerweise selbst Teil eines solchen Netzwerks im jeweiligen Sozialraum sind. Sie müssen wissen, wer in welchen Bereichen zuständig ist und wo seelisch belastete oder erkrankte (Berufs-)Schüler:innen sich niederschwellig hinwenden können. Wenn Lehrer:innen psychische Belastungen frühzeitig erkennen und rechtzeitig Beratungs- und Hilfsangebote aufzeigen können, sodass eine hochschwellige psychiatrische Behandlung gar nicht erst notwendig wird, ist das natürlich der bestmögliche Fall.
Was sind für Sie insgesamt die auffälligsten Entwicklungen in Bezug auf die seelische Gesundheit von Jugendlichen in den letzten 15 Jahren?
Wir sehen in den Kliniken eindeutig steigende Zahlen an Hilfe suchenden, vorwiegend depressiven oder ängstlichen Jugendlichen. Wir sehen zudem immer mehr Jugendliche, die teilweise seit Jahren nicht mehr in die Schule gegangen sind und wo es schwierig ist, sie wieder ins reguläre Schulsystem zurückzubringen. Das ist leider ein deutlicher Trend. Und was natürlich auch eine viel größere Rolle spielt, sind die sozialen Medien. Viele Patien:tinnen, die zu uns kommen, haben sich da schon sehr viel Informationen über bestimmte psychische Erkrankungen geholt und sich selbst diagnostiziert – manchmal geht das in die richtige Richtung, oft aber auch nicht. Das ist eine neue Herausforderung in der Behandlung.
Und wie gut ist es in Hamburg um die stationäre Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit schweren psychischen Erkrankungen bestellt? Bekommen sie normalerweise in vertretbarer Zeit einen Platz?
Das kommt darauf an, was man unter vertretbarer Zeit versteht. Akutversorgung ist immer gewährleistet. Und ich würde sagen, ja, es ist durchaus möglich, sowohl bei uns als auch in den anderen Kliniken, innerhalb von wenigen Wochen einen Behandlungsplatz zu bekommen. Im Suchtbereich ist das Nadelöhr etwas enger, da wartet man teilweise doch etwas länger, aber auch nicht unzumutbar.
Können Sie einschätzen, ob das in anderen Bundesländern ähnlich aussieht?
Ich würde sagen, dass es vergleichbar ist, dass die Wartezeiten in der Regel zwischen vier Wochen und drei Monaten betragen. Für ambulante Erstvorstellungen und Psychotherapieplätze wartet man allerdings deutlich länger, für Erstvorstellungen im Bundesdurchschnitt sechs Monate. Das kann im Einzelfall sehr schwierig sein.
Sie haben viel zu den Themen ADHS und Emotionsregulationsstörungen geforscht. Was genau sind Emotionsregulationsstörungen und wie äußern sie sich im Alltag?
Eine Störung der Emotionsregulation ist etwas Transdiagnostisches. Bei vielen psychischen Erkrankungen spielt es eine Rolle, dass man mit seinen Gefühlen nicht gut umgehen kann. Das kann bei ADHS der Fall sein, wo man vielleicht labil oder sehr schnell reizbar ist. Das kann aber natürlich auch bei Autismus zutreffen oder bei emotionaler Instabilität. Es gibt sehr viele psychiatrische Erkrankungen, die mit Störungen der Emotionsregulation einhergehen. Und das äußert sich eben darin, dass man Schwierigkeiten hat, mit sehr intensiven Gefühlen umzugehen. Dass man sehr schnell überfordert ist in bestimmten Situationen, sich dann sofort zurückzieht oder einen Wutanfall bekommt. Oder man hat ganz intensive Schuldgefühle oder kommt mit bestimmten Situationen nicht gut klar und verfällt in dysfunktionale Bewältigungsstrategien wie z.B. Selbstverletzung oder Substanzkonsum.
Das ist ja etwas, was bei Auszubildenden häufig eine Rolle spielt, wenn sie z.B. in Konflikt geraten mit den Ausbilder:innen. Gibt es gute Methoden, um zu lernen, damit besser klarzukommen?
Genau, im verhaltenstherapeutischen Kontext kann man natürlich typische auslösende Situationen betrachten und gemeinsam herausfinden, ob die Bewertung der Situation tatsächlich auch objektiv zutreffend und realistisch ist oder ob irgendwelche Grundannahmen im Hintergrund reinspielen, die dann z.B. dazu führen, dass man bestimmte Dinge negativ für sich bewertet, obwohl sie eigentlich gar nicht so gemeint waren. Man kann auf der anderen Seite, wenn es um Hochanspannungssituationen mit ganz intensiven Gefühlen geht, unter anderem mit Skills arbeiten. Auch das ist ja etwas, das man lernen kann, also diese Anspannungssituationen zu überbrücken und dann zu schauen, was ist das eigentlich für ein Gefühl und was wäre die adäquate Regulationsmöglichkeit bzw. wenn Konflikte zugrunde liegen, wie kann ich die lösen? Das sind so Verhaltensweisen, die man ganz praktisch versucht mit den Patienten einzuüben.
Das heißt, wir können den Betroffenen wirklich Mut machen, dass sie eine gute Chance haben, das besser in den Griff zu kriegen, wenn sie sich auf den Weg machen?
Auf jeden Fall!
Dann kommen wir zur letzten Frage, die wir allen Fachärztinnen gestellt haben, die wir für diese Serie interviewt haben: Wenn Sie sich von der deutschen Bundesregierung etwas wünschen könnten, um die Situation von psychisch Belasteten oder Erkrankten Kindern und Jugendlichen zu verbessern, was wäre das?
Ein Wunsch nur? Ich würde mir wünschen, dass man die Vernetzung mehr fördert, dass man schwer erkrankte Patient:innen gemeinschaftlich im Verbund behandeln und die Zusammenarbeit so ausgestalten kann, dass sie auch wirklich tragfähig ist. Und es sollten Anreize gesetzt werden, dass man längerfristig in vielen Fällen wegkommt von der stationären und hin zur aufsuchenden – und gemeinschaftlichen – Behandlung. Also nicht jeder Sektor für sich, z.B. nicht nur die Psychiatrie, nicht nur die Jugendhilfe, nicht nur die Schule, sondern integriert. Das wäre ein großer Fortschritt.
