Freude am präventiven Ansatz: Interview mit einer Fachärztin

"Eltern können sehr viel tun für die Entwicklung von Resilienz"
Dr. Heidi Igl engagiert sich seit 2024 als Referentin in unserem Kita-Programm. Sie ist seit Anfang 2023 Chefärztin der Dortmunder Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie im Landschaftsverband Westfalen-Lippe. Die Klinik bietet mit 35 vollstationären und 12 teilstationären Behandlungsplätzen sowie einer Institutsambulanz therapeutische Hilfe für junge Patient:innen mit psychischen Problemen, Verhaltensauffällig-keiten und psychosomatischen Störungen. Wir haben mit Dr. Igl über ihr Engagement für die Stiftung und aktuelle Entwick-lungen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie gesprochen.
Liebe Frau Dr. Igl, wir sind sehr dankbar, dass Sie uns im Kita-Patenprogramm als Referentin unterstützen und so dafür sorgen, dass Erzieher:innen und Eltern einen klareren Umgang mit dem Thema seelische Gesundheit haben. Welchen Mehrwert ziehen Sie selbst aus Ihrem Engagement?
Ich finde es schön, einen präventiven Ansatz zu verfolgen und mit den Menschen über die psychische Gesunderhaltung der Kinder zu sprechen. Im klinischen Bereich, in dem ich arbeite, tauchen ja in der Regel nur die Kinder auf, die schon längere Zeit psychisch krank sind – mit entsprechend schwerer Symptomatik. Seit letztem Jahr engagiere ich mich im Kita-Patenprogramm und habe gemerkt, dass es sehr schön ist, sich mit Familien auszutauschen, in denen die Kinder psychisch gesund sind. Es ist interessant zu sehen, welche Fragestellungen diese Eltern haben und sehr sinnvoll, ihnen Tipps zu geben, wie sie ein resilientes Aufwachsen fördern können.
Was können Eltern tun, um im Alltag die Resilienz von Kita-Kindern zu fördern und seelischen Krankheiten vorzubeugen?
Es gibt tatsächlich viel, was Eltern tun können, um die Resilienz der Kinder zu stärken. Und ich versuche im Gespräch mit Eltern den Fokus darauf zu legen, was sie alles schon richtig machen und sie darin zu bestärken. Denn auch Eltern brauchen positives Feedback. Wichtig ist echtes Interesse am Kind, gemeinsam Zeit zu verbringen, zu spielen, einfach nur zuzuhören und zuzuschauen ohne ein durchgetaktetes Tagesprogramm und vor allem nicht zu viel Medienzeit. In dem Punkt ist es wichtig, dass Eltern sich ihrer Vorbildrolle bewusst sind.
Was sind allgemein die auffälligsten Entwicklungen in Bezug auf die seelische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen seit Sie an psychiatrischen Kliniken tätig sind?
Ich bin jetzt seit 2010 in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, also schon 15 Jahre. Und was mir positiv auffällt, ist, dass Eltern immer informierter sind. Das hat sicherlich auch mit den sozialen Medien zu tun. Sie kommen immer häufiger mit konkreten Vorstellungen, auch die Patient:innen selbst. Früher war es eher so, dass Symptome und Verhaltens-auffälligkeiten geschildert wurden. Jetzt kommen die Eltern und Jugendlichen dagegen oft mit der Frage nach konkreten Diagnosen. Als ich anfing, stand eher ADHS im Fokus, heute kommen viele mit der Vermutung, sie könnten im autistischen Spektrum liegen. Wichtig ist, dass die Eltern und Jugendlichen nicht aus den sozialen Medien falsche Informationen bekommen. Das ist auch eine Herausforderung an uns als Fachkräfte. Die LWL-Universitätsklinik in Hamm macht z.B. einen ganz tollen Podcast über psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen.
Und diese Welle, die sich da in Corona aufgebaut hat, ist die immer noch nicht abgeebbt?
Was wir seit der Corona-Pandemie verstärkt sehen, sind schwerere Ausprägungen internalisierender Störungsbilder wie Depression, Angst, Zwang, aber auch Essstörungen. Die Kinder waren in dieser Zeit überwiegend zu Hause. Es gibt also gar nicht so viel mehr psychisch kranke Kinder und Jugendliche, aber was wir sehen, sind eben schwerer kranke Patient:innen, vor allem im Hinblick auf Essstörungen. Die sind einfach noch länger und schwerer krank gewesen, bevor sie in Behandlung kommen. Was wir ebenfalls sehen und was ich sehr schade finde, ist, dass durch Corona tatsächlich viele mit Hobbys aufgehört haben und gerade die jungen Menschen haben dann nicht wieder angefangen nach der Pandemie. Da fehlen dann wichtige Erfahrungen im sozialen Miteinander und Chancen ein gesundes Selbstbewusstsein aufzubauen.
In ihrer Rolle als Chefärztin einer kinder- und jugend-psychiatrischen Klinik in Dortmund sind Sie eine Verfechterin einer engen Zusammenarbeit von Kinder- und Jugendpsychiatrie und Jugendhilfe, aber auch mit anderen Playern wie Polizei und Schulen. Wie setzen Sie das konkret um?
Wir haben einen Kooperationsvertrag mit dem Jugendamt in Dortmund sowie den Trägern der ambulanten und stationären Jugendhilfe. Es gibt viele Treffen auf verschiedenen Ebenen und wir tauschen uns regelmäßig aus, evaluieren was klappt gut, was noch nicht so. Wir versuchen, die unterschiedlichen Systemlogiken zu verstehen und uns auf Augenhöhe zu begegnen. Und dabei immer wieder bei jedem noch so herausfordernden Kind vom Kind aus zu denken. Das ist manchmal sehr anspruchsvoll. Im Endeffekt versuchen wir, gemeinsam jedem Kind ein Angebot zu machen. Dazu haben wir regelmäßige Kooperationstreffen mit der örtlichen Polizei, mit dem Rettungsdienst und mit dem Familiengericht. Wir treffen uns mit den niedergelassenen Psychotherapeut:in-nen und Psychiater:innen sowie den Schulsozialarbeiter:in-nen unserer Stadt. Wir investieren sehr viel Zeit in die Kooperationsarbeit, aber es ist für uns auch ein großer Vorteil, weil es uns die Chance gibt, die Grenze des eigenen Systems und des eigenen Denkens zu überwinden. Hier haben wir die letzten Jahre deutliche Fortschritte gemacht.
Das klingt sehr spannend. Gibt es da Vorbilder oder sind Sie selbst in einer Vorreiterrolle?
Wir haben einen engen Austausch innerhalb der BAG kjpp, also der Bundesarbeitsgemeinschaft der leitenden Klinikärzt:innen in unserem Fachgebiet. Seit ich im Januar 2023 die Chefarztposition übernommen habe, bin ich auf einzelne Kolleg:innen aufmerksam geworden, die schon verbindliche Kooperationsvereinbarungen hatten. Es ist so wichtig, dass man nicht im Krisenfall übereinander schimpft, sondern sozusagen in „Friedenszeiten“ zusammen am Tisch sitzt, um Prozesse klar festzulegen. Das hat mich sehr inspiriert und ich profitiere da sehr vom Austausch mit den Kolleg:innen in der BAG.
Und wie gut ist es quantitativ, um die ambulante und stationäre Behandlung von Kindern und Jugendlichen bestellt? Bekommen Kinder oder Jugendliche mit schweren Erkrankungen, wie zum Beispiel starken Essstörungen oder Depressionen, im Ruhrgebiet normalerweise schnell genug einen Platz.
Also bei akuter Eigen- oder Fremdgefährdung nehmen wir ja in allen Kliniken zur Stabilisierung und Krisenintervention sofort stationär auf. Auf die stationären Therapieplätze gibt es (ohne akute Gefährdung) leider schon längere Wartezeiten, Wobei wir im Ruhrgebiet noch eine sehr hohe Krankenhausdichte haben. Das ist in ländlichen Regionen schwieriger. Bei uns warten die Jugendlichen derzeit auf einen stationären Therapieplatz zwischen zwei Wochen und sechs Monaten, abhängig von Diagnose und Altersgruppe, also auf der Jugendlichen-Station mit sechs Monaten Wartezeit schon sehr lange. Und ambulant ist es tatsächlich so, dass es circa drei bis vier Wochen dauert bis man einen ersten Termin bekommt. Wir haben aber eine tägliche Notfall-Sprechstunde und wir haben eine offene Sprechstunde jeden Montag, wo man auch ohne Gefährdung immer kommen kann, einfach ohne Termin. Wir versuchen schnell zu beraten, zu verstehen, was los ist. Jeden Tag kann man anrufen und sich beraten lassen, auch bei Fragen und Sorgen. Wenn aber klar ist, dass eine stationäre Therapie angezeigt ist, dann dauert es. Es gibt jedoch auch hier große Unterschiede in der Wartezeit. Insbesondere junge Menschen mit Eigen- oder Fremdgefährdung oder mit rasch voranschreitenden Krankheitsbildern, wie zum Beispiel bei der Essstörung, nehmen wir sehr zeitnah auf. Wir arbeiten auch über Spezialambulanzen, so haben wir zum Beispiel eine Trauma-Ambulanz, eine Ambulanz für Essstörungen, aber auch eine Ambulanz für Säuglinge und Kleinkinder. Auch eine Spezial-Sprechstunde für Mediensucht bieten wir an und natürlich eine Drogensprechstunde, denn Drogen sind ein „heißes“ Thema in Dortmund. Und wir sehen leider auch immer mehr obdachlose junge Menschen. Diese sind natürlich weniger einfach zu erreichen und es ist schwierig, dass sie Termine einhalten und Medikamente regelmäßig nehmen. Das ist eine große Herausforderung in einer guten Behandlung.
Noch ein kleiner Themenwechsel. Ich habe gelesen, dass Ihnen Kinder psychisch kranker Eltern besonders am Herzen liegen. Haben Sie viele davon auch als Patient:innen, weil sie der schwierigen Situation zu Hause nicht standhalten können? Gibt es besondere Angebote für Kinder psychisch kranker Eltern?
Grundsätzlich ist es ja so, dass einige psychische Erkrankungen vererbt werden können. Das heißt, dass ein Teil unserer Patient:innen eben auch Eltern mit eigenen psychischen Erkrankungen haben. Und mir ist über die letzten Jahre aufgefallen, dass manche Eltern mit psychischen Erkrankungen auch schlechte Erfahrungen mit Psychiatrie gemacht haben. Und das ist für mich immer so eine Herzensangelegenheit, sie abzuholen, mit ihnen über ihre Erfahrungen zu sprechen, damit sie sich besser damit fühlen, dass das Kind in Behandlung geht. Es ist wichtig das zu berücksichtigen. Wir arbeiten sehr, sehr eng und unterstützend mit den Eltern zusammen, machen Elternabende und Multifamilientherapie. Wir arbeiten zusammen mit der LWL-Klinik für Erwachsenenpsychiatrie in Dortmund und haben eine gemeinsame Familiensprech-stunde, sodass Erwachsene, die psychisch kranke Kinder haben, zu uns übermittelt werden. Und wir übermitteln psychisch kranke Eltern, die noch nicht in Behandlung sind, an die Erwachsenenpsychiatrie, Wir wissen, wenn wir die Eltern stärken, dann stärken wir unsere Patient:innen. Und deswegen ist das auch einfach so wichtig. Wir versuchen immer zu erfragen wie es den Eltern geht und was diese brauchen, damit die Kinder die Behandlung bei uns gut schaffen können.
Das ist ein sehr interessanter Aspekt. Nun habe ich noch eine letzte Frage: Wenn Sie sich von der neuen Bundesregierung etwas wünschen könnten, um die Situation von psychisch belasteten oder erkrankten Kindern und Jugendlichen zu verbessern, was wäre das?
Aktuell ist es so, dass wir sehr wenig flexibel sind, was den Wechsel zwischen Behandlungsarten, also einer stationären, einer ambulanten und einer aufsuchenden Behandlung angeht und dass wir sehr viel mit den Krankenkassen verhandeln müssen. Wir versuchen derzeit, in ein Modellprojekt nach Paragraf 64b SGB V (Modellvorhaben zur Versorgung psychisch kranker Menschen) zu kommen, damit wir so behandeln können, wie es der junge Mensch wirklich gerade braucht. Und ich würde mir einfach wünschen, dass diese Modellprojekte nicht nur Modellprojekte sind, sondern dass es generell gestattet ist, z. B. aufsuchend zu behandeln, wenn das für die Patient:innen das Beste ist. Ich bin optimistisch, dass wir dahin kommen. Andere Länder behandeln schon deutlich mehr teilstationär und aufsuchend als wir in Deutschland. Für viele Kinder und Jugendliche ist es der richtige Weg, so viel wie möglich im häuslichen Setting und so wenig wie möglich im stationären Setting zu sein. Es wäre wirklich schön, wenn wir eine individuell angepasste Behandlung machen könnten und dazu auch die personellen Möglichkeiten hätten.
Würde das auch bedeuten, dass tatsächlich eine Kinder- und Jugendpsychiaterin zu den Kindern nach Hause fährt?
In Modellprojekten ist das schon möglich, auch in Deutschland. Da kann dann die Fachärztin beispielsweise am Montag eine Visite machen, am Dienstag kommt der Ergotherapeut, am Mittwoch die psychiatrische Pflege und am Donnerstag vielleicht die Kunsttherapeutin. Am Freitag kommt das Kind dann zur Gruppentherapie in die Klinik. So wäre das gedacht. Dadurch könnte das Kind auch in seiner eigenen Schule bleiben und müsste nicht in die Klinikschule. Man sollte natürlich immer genau schauen, welches Kind schafft was. Aber bei vielen Krankheitsbildern ist die stationäre Krankenhausbehandlung gar nicht sinnvoll, sondern eine enge Begleitung für das Kind im Alltag wäre ideal. Man braucht dafür natürlich eine bessere personelle Ausstattung - auch wegen der Wegezeiten. Aber wenn man zurückblickt, sind die Erwachsenen- und auch die Kinder- und Jugendpsychiatrie schon einen sehr weiten und guten Weg gegangen. Und den gehen wir weiter.