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Kleinkinder brauchen Grenzen: Interview mit einer Fachärztin

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"Die Störungsbilder werden schwerwiegender"

Dorothee Möhrle ist als Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie mit eigener Praxis in Hamburg-Eppendorf tätig und u.a. auf Eltern-Säuglings-Kleinkind-Psychotherapie spezialisiert. vorstellen. Schon seit 2016 engagiert sie sich im Kita-Programm. Wir haben mit ihr über die seelische Gesundheit von Säuglingen und Klein-kindern im Rahmen aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen gesprochen.

Frau Möhrle, Sie engagieren sich seit neun Jahren in unserem Kita-Patenprogramm und legen auch in ihrer Praxis einen Schwerpunkt auf die Behandlung von
Kleinkindern. Was ist das Besondere an der Behandlung von Kindern dieser Altersgruppe?

Es ist grundsätzlich eine sehr komplexe Behandlung, da es – entgegen der gesellschaftlichen Vorstellung - erheblich schwieriger ist, Kleinkinder oder gar Säuglinge adäquat zu verstehen. Es ist aber zugleich die Entwicklungszeit, die maßgeblich prägend ist für die ganze Lebensspanne.

Wie läuft die Therapie in groben Zügen ab?

Meine Erfahrungen haben dazu geführt, dass ich die Qualität der Eltern-Kind-Bindungsbeziehung für absolut zentral erachte – und zwar zeitlebens. Von den
Erwachsenenbehandlungen psychisch Erkrankter wissen wir, dass da immer früher oder später hoch bedeutsame Erfahrungen mit den primären Bindungspersonen auftauchen. In der frühen Kindheit ist die Therapie davon geprägt, dass das Kind im eigentlichen Sinn eben nicht
so kommuniziert, wie Erwachsene das kennen, nämlich mit Worten, die jeder glaubt, sofort eindeutig zu verstehen. Die „Sprache“ des kleinen Kindes oder des Säuglings existiert jedoch vom ersten Moment an, sogar ab dem Zeitpunkt der Zeugung. Während der Schwangerschaft ist es u.a. die Vorstellung, der Eltern, der Mutter, von ihrem wachsenden Kind, die die Beziehung prägt. Eine Zeit sehr spezieller Gebundenheit und Verbindung, die noch sehr
körperbezogen ist. Alles, was die Mutter erfährt, wird sich unmittelbar im Erleben des Fötus abbilden. Und das setzt sich kontinuierlich fort solange Kinder in der Abhängigkeit von ihren Eltern sind, was über viele, viele Jahre ja noch der Fall ist. Diese Verbindung wird häufig in ihrer
Bedeutung nicht wahrgenommen, nicht ernst genommen, nicht erkannt in der Tragweite.

Das heißt, Sie behandeln sozusagen mehr die Bindung oder versuchen, diese zu verbessern, als dass Sie nur mit dem kleinen Kind dasitzen und versuchen, wie in einer Erwachsenentherapie mit ihm zu interagieren?

Die Eltern-Säuglings-Kleinkind-Therapie ist eine gemeinsame Behandlung eines Kindes und zumeist
mindestens eines anwesenden Elternteils. Bei Kleinkindern gibt es schon die Vorstellung, man könne mit dem Kind alleine arbeiten und das wird auch so praktiziert. Ich
selbst setze inzwischen meinen persönlichen Schwerpunkt viel mehr auf das Arbeiten auch mit den Eltern, die die primären Entscheider sind für die Entwicklung eines Kindes sind und in die Behandlung aktiver mit einbezogen werden. Ich schaue mir an, wie sie das Kind wahrnehmen und beschreiben und wie ich es selbst erlebe und gehe darüber in Kommunikation mit den Eltern, wenn ich eine Beziehung zu ihnen aufgebaut habe.

Deswegen ist mein Arbeitsschwerpunkt wirklich sehr anders geworden. Es ist vielfach publiziert, dass es gelingen muss, mit den Eltern in ein Arbeitsbündnis zu kommen. Die eigentliche Veränderung findet aus meiner Sicht über die Beziehungsarbeit zwischen Eltern,
Therapeutin und Kind statt. Funktioniert das nicht, ist es für ein Kind immerhin sehr wertvoll, mit einer anderen Person, also der Therapeutin, eine neue und andere Beziehungs-Erfahrung gemacht zu haben. Das ist stärkend, leider aber meistens nicht nachhaltig, wenn es nicht in der Eltern-Kind-Bindung zu wesentlichen neuen positiveren Erfahrungen kommt.

Das klingt sehr nachvollziehbar und spannend. Haben sich die Störungsbilder bei den kleinen Kindern in den letzten Jahren signifikant verändert?

Da gibt es unterschiedliche Einschätzungen, aber ich würde sagen, ja. Unsere gesamten Beziehungsstrukturen haben sich extrem verändert in den letzten Jahren und die individuellen Entwicklungen bedingen die gesellschaftliche Formung und umgekehrt. Das ist ein hochkomplexes wechselseitiges Geschehen aus meiner Sicht, das dazu geführt hat, dass es mehr „strukturelle Störungen“ gibt. Die beginnen viel früher und sind dadurch geprägt, dass die gesamte Persönlichkeitsstruktur eines Menschen sich verändert. Das heißt, die Störungsbilder werden schwerwiegender. Es handelt sich dann um tiefergehende Beziehungs- und Bindungsstörungen (nicht gemeint wie dieselben Begrifflichkeiten des Diagnosesystems ICD-10) mit Beeinträchtigungen der Selbstregulation in Bezug auf Schlaf, Ernährung, Frustrationstoleranz und Affektkontrolle, letztlich der Identitätsentwicklung und damit der Fähigkeit, mit sich selbst und anderen überhaupt in angemessene, vor allem nicht leidvolle Beziehung treten zu können.

Und woran liegt das genau?

Es fehlt vielfach an Orientierung und Sicherheit, vor allem an der Anerkennung von Grenzen. Jeder kann/soll heute alles sein und werden, die Individualität steht sehr im Vordergrund, gefördert z.B. von Social Media.

Und wie wirkt sich das auf ein dreijähriges Kind aus?

Das wirkt sich insoweit auf ein dreijähriges Kind aus als Eltern eine ganz andere Vorstellung oder auch gar keine Vorstellung davon haben, wie man als Eltern eigentlich ist. Also das Bild, was heutzutage existiert, ist auch davon geprägt, dass man alles kann und alles muss. Man hat rund um die Uhr alles zur Verfügung, in diesem Dating-Apps zum Beispiel. Dadurch ist alles beliebig und die Bedeutung des Individuums ist einerseits wahnsinnig groß und zugleich aber wie nicht mehr vorhanden. Und diese Spaltung, die das aus meiner Sicht intrapsychisch bedeutet, hat enorme Auswirkungen. Woran sollen sich junge Menschen
orientieren? Kinder brauchen aber eine Sicherheit, eine Eindeutigkeit, dass ein Elternteil auch mal sagt, das lässt du jetzt aber bleiben, keine Diskussion. Ein Kind muss erst mal zu einem Individuum werden mithilfe der Bindungsbeziehungen. Doch das funktioniert so nicht mehr.
Da kann die KI nämlich nicht helfen und das Smartphone auch nicht. Wo bleibt das zentrale Bedürfnis eines menschlichen Individuums auf Bezogenheit und psychophysische Bindung? Da gab es schon vor Jahren ein wunderbares Plakat, ich glaube von der TK: Eltern mit dem
Babywagen, die ins Handy gucken und das Kind nebenher schieben. Das ist heute die Regel. Die Regel von Beziehung. So wird Beziehung gelebt, nämlich eigentlich nicht mehr.

Säuglinge und Kleinkinder, die das erleben, erfahren sich als völlig bedeutungslos. An diesem Prozess sind wir alle beteiligt. Und die Auswirkungen sind gravierend. Wir entwickeln uns in eine Richtung, die noch vor 20 Jahren Sci-Fi war, aber inzwischen immer mehr Realität wird.

 

Spielt es schon in diesem ganz jungen Alter eine Rolle, dass die Kleinkinder selbst digitale Medien zu viel nutzen? Dass man Zweijährigen ein Tablet hinschiebt und dann gucken sie drei Stunden Zeichentrickfilme, während die Mama mit ihrem Handy beschäftigt ist?

Das verändert u.a. die Gehirnstruktur, hat vielfältige Auswirkungen und ist gut untersucht. Mir ist aktuell nur ein äußerst kritischer Kommentar von 2022 aus der Fachzeitschrift „Nervenheilkunde“ präsent zum Gutachten der ständigen wissenschaftlichen Kommission der
Kultusministerkonferenz über Digitalisierung in Kita und Grundschule, der medizinisch und sozial extreme Folgeschäden beschreibt

Dann kommen wir noch mal zu unserer gemeinsamen Arbeit zurück. Im Rahmen des Kita-Patenprogramms halten Sie ehrenamtlich Webseminare zur seelischen Gesundheit. Durch die Seminare wollen wir Erzieher:innen und Eltern für psychische Probleme von
Kita-Kindern sensibilisieren und aufzeigen, welche Hilfswege angesteuert werden können. Welche konkreten Herausforderungen werden von den
Seminarteilnehmerinnen besonders häufig angesprochen?

Meistens sind es gravierende und belastende Einzelfälle, die die Teilnehmer:innen dazu motivieren, Fragen zu stellen. Die sind dann sehr spezifisch, aber deshalb nicht weniger
wichtig. Leider ist bisher nicht in dem Umfang, wie ich mir das wünschen würde, die Bereitschaft in der frühen Arbeit mit Kindern vorhanden, sich wirklich mit psychischen
Problemen auseinanderzusetzen und eine fachfremde, psychodynamische, entwicklungspsychopathologische Sicht zu akzeptieren. Man versucht, alles über
pädagogische Maßnahmen zu regeln, weil man es so gelernt hat, aber in nicht wenigen Fällen kann das nicht funktionieren. Vereinzelt gibt es natürlich Mitarbeiter:innen, die weiterdenken, die dranbleiben, sich nicht mit schnellen Antworten zufrieden geben. Das würde ich mir viel mehr wünschen. Natürlich werden im Kita-Alltag, der von Personalmangel geprägt ist, unheimlich hohe Erwartungen an Erzieher:innen gestellt, genauso wie auch an
Lehrer:innen. Während die Eltern gleichzeitig oft nicht bereit sind, selber erstmal zu gucken. Erzieher:innen und Lehrer:innen haben einen unglaublich anstrengenden, anspruchsvollen Beruf, der gesellschaftlich nicht entsprechend anerkannt wird. Ihre Leistung wird von den
Eltern/unserer Gesellschaft oft einfach auch nur konsumiert.

Wenn Sie die Möglichkeit hätten, allen Eltern und Erzieher:innen in Deutschland einen Ratschlag zu geben, was würden Sie raten?

Sich selbst auf eine bestimmte Art ernster zu nehmen und sich selbst besser kennenzulernen, möglicherweise durch eine Therapie, damit sie klarer und konsequenter sein können im Umgang mit den Kindern. Dann könnte die Ausbildung schwerer Störungen schon im Säuglings- und
Kleinkindalter möglicherweise eher vermieden oder rechtzeitig erkannt werden.
 

Dann habe ich noch eine letzte Frage: Wenn Sie sich von der neuen Bundesregierung etwas wünschen könnten, um die Situation von psychisch belasteten oder erkrankten Kindern und Jugendlichen zu verbessern, was wäre das?
 

Man müsste das Bewusstsein für die Bedeutung der frühsten und frühen Kindheit für das ganze Leben radikal fördern. Aber ich glaube nicht, dass es ein wirkliches Interesse daran gibt in einer Gesellschaft, die kapitalismusorientiert ist. Gleichzeitig ist Kinderschutz ein zentrales Thema, aber da gibt es viele verschiedene Ansichten: Wie muss ein kontinuierlicher und fundierter Kinderschutz aussehen? Ich würde mir wünschen, dass die aktuelle Bundesregierung hier deutlich mehr Zeichen setzt, den Schutz der Schwächsten absolut zu ihrer Maxime macht. Aber ich bin sehr skeptisch, weil es - ich sag's mal, ein bisschen provokativ - darum geht, neue Konsumenten heranzuziehen und nicht mündige Individuen.
Demokratiefähigkeit beginnt für mich bereits in der Wiege.

Über die Stiftung

Die Stiftung Achtung!Kinderseele wurde 2009 von den Fachgesellschaften für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -Psychotherapie (DGKJP, BAG, BKJPP) gegründet.

Wir setzen uns in enger Zusammenarbeit mit ehrenamtlich engagierten Fachärztinnen und Fachärzten für die Stärkung der seelischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen ein.

Stiftung Achtung!Kinderseele

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