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Auszubildende auffangen: Interview mit einer Fachärztin

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"Die Weltlage verunsichert die ganze Gesellschaft"

Dr. med. Barbara Preiss-Leger, Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, hält für die Stiftung "Achtung!Kinderseele" seit 2020 regelmäßig Webseminare für Ausbilder:innen und Ausbildungsbegleiter:innen, um diese fitter im Umgang mit psychisch belasteten Auszubildenden zu machen und ihnen Tools zur Resilienzstärkung mitzugeben. Wir haben mit ihr u.a. über aktuelle Entwicklungen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie gesprochen, aber auch über Möglichkeiten, die psychische Gesundheit von Auszubildenden besser zu fördern.

Frau Dr. Preiss-Leger, Sie haben 45 Jahre Berufserfah-rung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Was sind die einschneidendsten Veränderungen in Bezug auf die seelische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in dieser Zeit?

Ich denke, dass die generelle Verunsicherung in der Erwachsenenwelt, die wir erleben, für die Kinder wirklich ein großes Problem ist. Es ist ja nichts schwieriger für Kinder und Jugendliche, als wenn ihre Bezugspersonen sich nicht sicher fühlen. Die Weltlage verunsichert die ganze Gesellschaft, die Zunahme an Autokraten und Kriegen, die Angst um den Arbeitsplatz bei vielen, die steigenden Lebenshaltungskosten, das sind riesige Veränderungen. Dann denke ich, dass die Kinder und Jugendlichen immer noch unter den Einschränkungen der Pandemie leiden. Egal ob die Kinder im Kleinkindalter waren, in der Grundschule oder in der weiterführenden Schule, allen fehlen bestimmte Entwicklungserfahrungen, die man in der Zeit gemacht hat. Und auf viele wirkt sich das negativ aus.

Welche Rolle spielen die digitalen Medien?

Ihre Omnipräsenz ist eine große Bedrohung für die psychi-sche Gesundheit: Jeder sechste Jugendliche hat Erfahrung mit Cybermobbing. Das ist etwas, das die Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen heutzutage ganz entscheidend prägt und große Verzweiflung auslösen kann. Ganz schlimm ist es, wenn Kinder oder Jugendliche sich verleiten lassen, anzügliche Fotos von sich zu verschicken, die vom Empfänger mit einem großen Kreis geteilt werden. Sowas kann eine ganze Familie ins Unglück stürzen. Ein weiteres Problem im Jugendalter ist dieses sich vergleichen mit anderen auf Instagram, wobei die Fotos der anderen meist bearbeitet sind. Da wird ein Idealbild vorgegaukelt, das überhaupt nicht erreichbar ist. Früher haben die Mädchen auch mal ein abgemagertes Model im Fernsehen oder in Zeitschriften gesehen, aber nicht ununterbrochen. Das Smartphone wirkt sich allerdings schon viel früher auf die kindliche Erfahrungswelt aus. Wenn ich sehe, dass eine Mutter, während sie den Kinderwagen schiebt, die Stöpsel im Ohr hat und mit jemand anderem redet, frage ich mich, was das wohl für die Entwicklung der Kinder, die da im Kinderwagen sitzen, bedeutet. Oder die Kinder bekommen sehr früh selbst schon ein Smartphone statt Aufmerksam-keit, um sie ruhig zu stellen. Studien zeigen eindeutig,
dass das negative Folgen für die Sprachentwicklung hat.

Als ehrenamtliche Unterstützerin unserer Arbeit im Programm „Meister von Morgen“ halten Sie Websemi-nare zur seelischen Gesundheit allgemein oder zu spezi-fischen Themen wie z.B. „Ängste in der Ausbildung“. Durch die Seminare wollen wir das Umfeld von Auszu-bildenden für psychische Probleme und Krankheiten wie Depressionen und ADHS sensibilisieren und aufzeigen, welche Hilfswege angesteuert werden können. Welche konkreten Herausforderungen werden im Rahmen der Webseminare von den Ausbilder:innen und Ausbildungs-begleiter:innen am häufigsten angesprochen?

Die Ausbildenden fragen, wie sie auf bestimmte Verhaltens-weisen reagieren sollen, was sie tun können, um die Jugendlichen sozusagen einzufangen. Viele sind sehr engagiert dabei, gerade die ehrenamtlichen Ausbildungs-begleiter:innen. Mit ihnen muss ich auch darüber reden, wo ihre Grenzen sind. Also was ist wirklich mein Job als Ausbildungsbegleiter:in und was geht über das hinaus?

Und welche Krankheitsbilder werden vor allem geschildert?

Das sind immer wieder Depressionen und Ängste. Auch in den Praxen sehen wir vor allen Dingen Jugendliche mit Depressionen. Das hat wirklich sehr zugenommen. Auch Depressionen, die medikamentös behandlungsbedürftig sind. Das habe ich in der ersten Hälfte meiner Berufstätig-keit so nicht erlebt. Auch die Depressionen im Erwachse-nenalter nehmen ja stark zu. Ich denke, das liegt daran, dass alle sich so einen enormen Druck machen, auf der Arbeit und im Privaten, und gleichzeitig in diesem Unsi-cherheits-Gefühl leben, von dem wir schon gesprochen haben.

Das klingt nach einer großen Herausforderung für Ausbilder:innen und Ausbildungsbegleiter:innen. Was sind Ihre wichtigsten Ratschläge an sie?

Entscheidend ist, dass sie sich darüber klar sind, dass sie ein Beziehungsangebot machen müssen. Sie brauchen Zeit und Geduld, ein offenes Ohr und einen radikal wertschät-zenden Umgang, um wirklich etwas bewirken zu können.

Und wenn jemand einen Fall schildert, wo der oder die Auszubildende anscheinend richtig krank ist? Also wo klar ist, da muss dringend was passieren. Was raten Sie dann?

Da ist es sehr hilfreich, wenn die Ausbildenden durch unser Webseminar schon genau wissen, welche Hilfsmöglich-keiten es gibt und welche Schritte gegangen werden müssen. Das macht es viel leichter, mit Auszubildenden darüber zu sprechen, dass sie etwas unternehmen müssen, um seelisch wieder gesund zu werden. Ganz schwere Fälle mit suizidalen Tendenzen erleben vor allem Ausbilder:innen und Ausbildungsbegleiter:innen, die mit geflüchteten Auszubildenden mit Traumatisierungen arbeiten.

Seit Jahren ist die Quote der Ausbildungsabbrüche hoch. Rund 25 Prozent der Lehrlinge schmeißen ihre Ausbildung vor dem Abschluss hin, die meisten gleich in den ersten Monaten. Das ist für die Gesellschaft problematisch und kann auch für den einzelnen jungen Menschen der Einstieg in eine schwierige berufliche Entwicklung sein. Woran liegt es?

Es scheint einen großen Unterschied zu geben zwischen den Erwartungen, die an die Jugendlichen in der Familie und in der Schule gestellt worden sind, und dem, was in der Ausbildung erwartet wird. Wenn zuhause zu wenig Anfor-derungen gestellt und zu wenig Grenzen gesetzt wurden, dann ist so ein Einstieg in die in die Berufswelt ganz schön schwer. Das ist dann eine komplett andere Welt, eine enorme Herausforderung an die Disziplin und die Konzen-tration, die so ein Arbeitsalltag mit sich bringt. Ich denke, dass die Jugendlichen da zum Teil nicht genug vorbereitet sind. Das ist insgesamt etwas, das sich sehr verändert hat in meiner langen Zeit in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Früher ging es darum, dass wir Eltern dazu bringen, ihre Kinder nicht zu überfordern, dass sie Gewalt bleiben lassen, dass sie die Gefühlsebene nicht vernachlässigen. Jetzt müssen wir sie dazu bringen, Grenzen zu setzen und auch mal eine Anforderung zu stellen.

Das ist ein wertvoller Input für unser neues Projekt „Ausbildungsanker“. Mit einer Förderung der Grohe Stiftung wollen wir ein Projekt aufsetzen, um Ausbildungsabbrüche insbesondere in den ersten Ausbildungsmonaten zu minimieren und Jugendlichen bei unvermeidbaren Abbrüchen eine bessere Orientie-rung und neue Perspektiven zu bieten, damit sie nicht ein Loch fallen. Wir wollen dies vor allem durch eine zielgerichtete Schulung von Ausbilder:innen und Berufs-schullehrkräften erreichen, aber auch die Lehrkräfte an allgemeinbildenden Schulen mit einbeziehen.

Das klingt nach einer sehr sinnvollen Initiative. So sollten die Lehrer:innen künftig besser gerüstet sein, den Jugendlichen ein realistisches Bild der Ausbildungszeit zu vermitteln.

Noch eine letzte Frage: Wenn Sie sich von der neuen Bundesregierung etwas wünschen könnten, um die Situation von psychisch belasteten Kindern und Jugendlichen zu verbessern, was wäre das?

Einerseits müssen wir auf jeden Fall das Versorgungsnetz ausbauen. Wir brauchen einfach mehr Kinder- und Jugendpsychiaterinnen und auch Psychotherapeutinnen. Andererseits – und das ist natürlich sehr umfassend – müssen wir die Lebensverhältnisse so verbessern, dass die Familien insgesamt entspannter sind. Da spielen unsere Arbeitsverhältnisse und unsere Wohnverhältnisse eine große Rolle. Wir brauchen weniger Druck, wir brauchen mehr Wohnungen und als Basis eine gesunde Umwelt.
Ja, das wäre mein Wunsch.

Über die Stiftung

Die Stiftung Achtung!Kinderseele wurde 2009 von den Fachgesellschaften für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -Psychotherapie (DGKJP, BAG, BKJPP) gegründet.

Wir setzen uns in enger Zusammenarbeit mit ehrenamtlich engagierten Fachärztinnen und Fachärzten für die Stärkung der seelischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen ein.

Stiftung Achtung!Kinderseele

c/o HST Hanse StiftungsTreuhand GmbH
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Telefon +49 40 320 8830-25
Fax +49 40 320 8830-19
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