top of page

„Sehen. Verstehen. Stärken – DIE ARCHE!“

Arche_Presse_1.jpg

Gespräch mit Arche-Gründer Pastor Bernd Siggelkow

 „Eltern, die ständig mit dem materiellen Überleben
beschäftigt sind, fehlt oft der Blick für das Kind“

Psychische Probleme zählen zu den häufigsten Erkrankungen bei unter 18-Jährigen, am stärksten betroffen sind sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche. Hier setzt das Kooperationsprojekt „Sehen. Verstehen. Stärken – DIE ARCHE!“ der Stiftung „Achtung!Kinderseele“, der Deutsche Bahn Stiftung und des Kinderhilfswerks Arche an. Ziel ist die Schulung möglichst vieler pädagogischen Mitarbeiter:innen der Arche zum Thema seelische Gesundheit durch die Fachärzt:innen der Stiftung „Achtung!Kinderseele“. Nach der erfolgreichen Pilotphase Anfang des Jahres beginnen Ende November die Schulungen der Arche-Mitarbeiter:innen in Berlin/Potsdam und Leipzig/Dresden/Meißen. Zum Auftakt haben wir mit Arche-Gründer Pastor Bernd Siggelkow gesprochen.

Stiftung „Achtung!Kinderseele“: Die Arche bietet seit 1995 einen Anlauf- und Ankerpunkt für sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche, die in ihren Familien wenig Unterstützung erfahren. Wie hat sich die Situation für arme Familien und ihre Kinder in dieser Zeit entwickelt?

​

Bernd Siggelkow: Die Gesellschaft hat sich in diesen 27 Jahren stark verändert, vor allem durch den Einzug des Internets. Früher waren die Kinder viel mehr draußen auf Spielplätzen oder auf der Straße, heute sitzen sie isoliert am Laptop oder an der Playstation. Deshalb ist es früher schneller aufgefallen, wenn ein Kind stark benachteiligt war. Die Kinder haben auch öfter selbst Hilfe in den Archen gesucht und sind regelmäßig gekommen. Heute bleiben manche plötzlich weg, weil sie sich in Online-Spielen oder sozialen Netzwerken verlieren.

​

Was ist die größte Herausforderung für die pädagogischen Mitarbeiter:innen der Arche, die an 29 Standorten in Deutschland rund 5500 Kinder pro Monat betreuen?

​

Jetzt gerade müssen sie moralischen Beistand für die Familien leisten, die wegen der Inflation nicht mehr ein noch aus wissen. Noch mehr Eltern als früher haben sich aufgegeben, fühlen sich abgehängt und ihrer Würde beraubt. In der Arbeit mit den Kindern, die in die Archen kommen, ist es vor allem wichtig, ihnen das Gefühl von Liebe und einer verlässlichen Beziehung zu geben. Auf ein tolles Programm kommt es gar nicht so an.

​

Studien besagen, dass Menschen, die in Armut aufwachsen, ein höheres Risiko haben, psychische Krankheiten zu entwickeln – manche schon in der Jugend, andere erst als Erwachsene. Können Sie dies aus Ihrer Erfahrung heraus bestätigen?

​

Definitiv. Kindern aus benachteiligten Familien fehlt oft sozusagen der Katalysator. In diesen Familien geht es oft nur noch um das Haben und nicht um das Sein. Was fehlt, ist die Identifikation mit Werten, der Halt, die Würde, die Perspektive. Eltern, die ständig mit dem materiellen Überleben beschäftigt sind, fehlt oft der Blick für das Kind. Sie sehen die Symptome psychischer Probleme nicht oder verdrängen sie. Da die Probleme ungesehen und unbehandelt bleiben, können sie sich immer mehr verfestigen.

​

Gibt es in jeder Arche Kinder, die behandlungsbedürftige psychische Probleme haben?

​

Eindeutig ja. Und wir sind oft die einzigen, die das erkennen. Denn außer uns und ihren Eltern haben die Kinder keine festen Bezugspersonen. Klassenlehrer wechseln immer schneller, Vertrauenslehrer gibt es oft gar nicht mehr und nur wenige sozial benachteiligte Kinder sind Mitglied in Vereinen oder anderen festen Gruppen.

​

Das Kooperations-Projekt „Sehen. Verstehen. Stärken –
DIE ARCHE!“ sieht vor, dass ehrenamtlich tätige Fachärzt:innen der Stiftung „Achtung!Kinderseele“ die Arche-Mitarbeiter:innen schulen, damit diese psychische Auffälligkeiten besser einordnen können und wissen, welche Hilfswege es vor Ort jeweils gibt. Können die meisten Eltern leicht überzeugt werden, Hilfe zu suchen, wenn die Pädagog:innen dazu raten?

​

Leider nicht. Viele sozial benachteiligte Eltern haben Angst davor, dass Probleme nach außen dringen, besonders
fürchten sie sich vor dem Jugendamt. Menschen mit existentiellen Sorgen können auch oft gar nicht über das „Heute“ hinausdenken, sie können keine Perspektive entwickeln. Schon die Schulung der Mitarbeiter:innen der Hamburger Arche in der Pilotphase hat gezeigt, wie wertvoll es ist, wenn unsere Pädago:innen bei ihren Schützlingen psychische Probleme so früh wie möglich erkennen und mit dazu beitragen, dass diese zunächst nicht schlimmer werden – indem sie selbst darauf eingehen, indem sie die Hilfswege kennen und indem sie gute Argumente parat haben, mit denen sie diplomatisch auf die Eltern einwirken können.

​

Ende 2021 waren 2,8 Millionen unter 18-Jährige in Deutschland von Armut betroffen, das sind knapp 21 Prozent aller Kinder und Jugendlichen. Die Arche tritt für eine Kindergrundsicherung ein, die es Kindern aus sozial benachteiligten Familien erlaubt, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Wie könnte ein solches Instrument genau aussehen?

​

Das Wichtigste ist, dass die finanzielle Unterstützung wirklich beim Kind ankommt. Deshalb schlagen wir vor, dass jedes bedürftige Kind 600 Euro Kindergrundsicherung pro Monat bekommt. Die Hälfte davon soll in eine App fließen, mit der die Kinder das bezahlen können, was sie brauchen, egal ob das ein Vereinsbeitrag ist, Nachhilfe, Eintritt in kulturelle Veranstaltungen oder neue Schuhe. Da die Eltern dieses Geld nicht direkt bekommen, kann es nicht grob zweckentfremdet werden. Die anderen 300 Euro sollen ins Bildungssystem fließen – für mehr zielgerichtete Unterstützung benachteiligter Kinder durch Vertrauenslehrer, intensive individuelle Förderung durch Lerncoaches und kostenloses Schulessen inklusive eines guten Frühstücks ohne das sich die Kinder nicht konzentrieren können. So ließe sich eine höhere Bildungsgerechtigkeit herstellen.

​

Wie wirken sich die gestiegenen Kosten für Lebensmittel und Energie auf die Arche selbst aus? Können Sie absehbar alle Standorte weiter betreiben?

​

Uns bereitet das ganz viele Probleme. Immer mehr Familien kommen zu uns, weil sie Lebensmittel brauchen und manche Tafeln niemanden mehr aufnehmen können, und immer mehr Kinder wollen bei uns essen. Gleichzeitig haben wir dieses Jahr etwa 1500 Spender verloren, die sich die regelmäßige Zuwendung einfach nicht mehr leisten können. Wir bemühen uns deshalb stark, Gelder von Unternehmen einzuwerben, und werden jetzt auch 250.000 Euro von einer großen Bank bekommen. Wir sind dafür extrem dankbar, wissen aber, dass dieses Geld in fünf bis sechs Monaten schon wieder aufgebraucht sein wird.

​

Am 24. November findet zum dritten Mal der Aktionstag gegen Kinderarmut und Ausgrenzung statt, der von der Arche ins Leben gerufen worden ist. Was wird an diesem Tag passieren?

​

Ziel des Aktionstages ist es, das Thema Kinderarmut ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu bringen und die Politik aufzufordern, dringend notwendige Verbesserungen umzusetzen. Dieses Jahr stellen wir mit dem Motto „Kinderarmut ist nicht fair“ einen Bezug zur Fußball-WM her, die am 20. November beginnt. In den Archen und den Einrichtungen unserer Partner finden viele Aktionen rund um den Fußball statt, ob Fußball-Turniere, Kicker-Turniere, Fußball-Quiz etc., da sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt. Darüber – und über unsere konkreten Forderungen zur Bekämpfung der Kinderarmut – informieren wir die Medien.

​

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Siggelkow. Wir freuen uns sehr auf die Kooperation und wünschen der Arche alles Gute zur Bewältigung der anstehenden Herausforderungen.

​

Pastor Bernd Siggelkow gründete die erste Arche 1995 in Berlin-Hellersdorf - inzwischen gibt es 29 Standorte in Deutschland und je einen in Polen und in der Schweiz. Der ehemalige Jugendpastor ist selbst Vater von sechs Kindern. Zum Thema Kinderarmut hat er mehrere Bücher geschrieben.

bottom of page